Obdachlose, die nicht „zuhause bleiben“ können, sind von der Pandemie noch stärker bedroht als andere. Daher sind an vielen Orten neue Gabenzäune entstanden, um ihnen zu helfen. Doch diese Almosen auf Abstand „helfen“ den Helfern mindestens ebenso wie den Bedürftigen.

  • Britta-Marie Schenk

    Britta-Marie Schenk ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, hat an der Universität Hamburg zum Umgang mit Menschen mit Behinderung in der humangenetischen Beratung promoviert und arbeitet zur Zeit an ihrer Habilitation zur Geschichte der Obdachlosigkeit im 19. und 20. Jahrhundert.

Unge­schützt dem Virus ausge­lie­fert, viel­fach ihrer Verdienst­mög­lich­keiten beraubt und mit einem stark einge­schränkten Hilfs­an­gebot konfron­tiert – dies charak­te­ri­siert die Situa­tion vieler Obdach­loser in der Corona-Krise. Kaum verwun­der­lich also, dass momentan verstärkt über Obdach­lo­sig­keit in den Medien berichtet wird. In dieser Bericht­erstat­tung nimmt die Aufmerk­sam­keit für Hilfs­an­ge­bote wie die in der Pandemie vieler­orts neu einge­rich­teten Gaben­zäune einen großen Raum ein, das heißt für Formen der Unter­stüt­zung, die vor der Corona-Krise durchaus exis­tierten, aber eher ein mediales Schat­ten­da­sein fristeten.

Gaben­zäune sind Zäune oder andere Orte im öffent­li­chen Raum, an denen Gebende anonym Spenden für Obdach­lose befes­tigen können. Meist hängen an diesen Zäunen oder Gittern Plas­tik­beutel, die Klei­dung, Hygie­ne­ar­tikel oder halt­bare Nahrung enthalten. Gegründet wurden Gaben­zäune von ehren­amt­lich enga­gierten Bürge­rinnen und Bürgern sowie von Personen, die bereits Erfah­rung in der Obdach­lo­sen­hilfe hatten. Die Idee hinter den Gaben­zäunen, die sich in Europa in den 2010er Jahren ausbrei­teten, erklärt sich aus der Entwick­lung der Obdach­lo­sen­hilfe in der jüngsten Zeit­ge­schichte. Eine der Prämissen der Obdach­lo­sen­so­zi­al­ar­beit besteht darin, nied­rig­schwel­lige Hilfs­an­ge­bote zu schaffen, die die Betrof­fenen in ihrem Lebens­raum errei­chen. Dazu passt es, dass die Obdach­losen zu einer Zeit ihrer Wahl die Beutel am Zaun selbst abholen können. Anders als beim Betteln findet ein direkter Kontakt zwischen Spender*innen und Empfan­genden dabei nicht unbe­dingt statt.

Histo­ri­sche Anknüpfungen

Der Bettler auf dem Brunnen „Kreis­lauf des Geldes“ (1976) in Aachen; Quelle: wikipedia.org

Auch wenn sich Gaben­zäune in euro­päi­schen Städten erst in den 2000er Jahren beob­achten lassen, kann diese Insti­tu­tion dennoch in der Stadt­ge­schichte von Bettelei und Obdach­lo­sig­keit des 20. Jahr­hun­derts verortet werden. Obgleich die Armen­für­sorge schon im 19. und frühen 20. Jahr­hun­dert (erfolglos) versuchte, unge­steu­ertes Almo­sen­geben an bettelnde Obdach­lose mit poli­zei­li­cher Hilfe zu verhin­dern, inten­si­vierte sich dieser Konflikt ab den 1970er Jahren noch einmal. In dieser Dekade libe­ra­li­sierte sich die Gesetz­ge­bung gegen­über Menschen, die auf der Straße lebten und/oder bettelten. Seit der Abschaf­fung des § 361 des bundes­deut­schen Straf­ge­setz­bu­ches im Jahr 1974 waren Betteln und Obdach­lo­sig­keit an sich straf­frei. Die Polizei besaß nun bedeu­tend weniger Eingriffs­mög­lich­keiten gegen­über Personen, die in dieser Zeit noch als „Stadt­strei­cher“ bezeichnet wurden; auch Grup­pen­an­samm­lungen von Obdach­losen konnten nicht mehr so konse­quent verhin­dert werden wie vor der Abschaf­fung des § 361. Daraufhin forderten Poli­zei­be­amte bei ihren Landes­re­gie­rungen eine „Rekri­mi­na­li­sie­rung“ der Stadtstreicher.

Auch die Städte griffen diese Forde­rung auf, da im Zuge von Stadt­sa­nie­rungs­pro­jekten und der Einrich­tung von Fußgän­ger­zonen in den 1970er Jahren ein Kampf um die Aneig­nung des öffent­li­chen Raumes begann. Grund­sätz­lich drehten sich die Klagen der Bürger­meister und auch der Polizei um die nun verstärkte Sicht­bar­keit von Obdach­losen in den Städten. Die Verant­wort­li­chen stützen sich zudem auf Beschwerden von empörten Passanten, die sich von Bett­lern gestört fühlten, von Müttern auf Spiel­plätzen oder von Einzel­händ­lern, die ihre Einnahmen durch ein „Herum­lun­gern“ Obdach­loser vor ihren Geschäften in Gefahr sahen.

Auch in der jüngsten Zeit­ge­schichte gab es immer wieder Bemü­hungen, die Obdach­losen aus den Städten zu vertreiben, insbe­son­dere aus den Einkaufs­straßen und von touris­ti­schen Orten. Obschon es nicht zu einer gesetz­li­chen Rekri­mi­na­li­sie­rung der Obdach­losen kam, gestal­teten viele Städte ihre Bänke im öffent­li­chen Raum unkom­for­tabel um, spra­chen Platz­ver­weise aus oder disku­tierten über die erneute Einfüh­rung von Bettel­ver­boten. All diese histo­ri­schen Beispiele weisen auf eine Invi­si­bi­li­sie­rungs­stra­tegie hin. Dies gilt auch für durchaus wohl­mei­nende lang­fris­tige Unter­kunfts­an­ge­bote, die im Einzel­fall zwar hilf­reich sein können, aber eben­falls dazu beitragen, die Sicht­bar­keit der Obdach­losen in der Öffent­lich­keit zu reduzieren.

Im fragilen Gleich­ge­wicht zwischen Sicht­bar­keit und Invi­si­bi­li­sie­rung von Obdach­lo­sig­keit in städ­ti­schen Räumen spielen die Gaben­zäune eine vermit­telnde Rolle. Zum einen bedürfen sie keines direkten Kontakts zwischen Spen­derin und Empfän­gerin, zum anderen markieren sie Obdach­lo­sig­keit sichtbar im Stadt­bild. Stellen Gaben­zäune doch im Gegen­satz zum immer wieder kontro­vers disku­tierten Betteln einen gesell­schaft­lich legi­ti­mierten Raum der Obdach­lo­sen­gaben dar.

Doch nicht nur die Insti­tu­tion Gaben­zaun und ihr Stel­len­wert im öffent­li­chen Raum verdienen eine genauere Betrach­tung. Auch die Praktik des Spen­dens für Gaben­zäune, mögliche Motive und Zusam­men­hänge lassen sich histo­risch reflektieren.

Das Geben an Gabenzäunen

Ethno­lo­gi­sche, sozio­lo­gi­sche und histo­ri­sche Forschungen betonen, dass Gaben an Bedürf­tige immer einen rezi­proken Charakter aufweisen. Nicht allein der Nehmende empfängt die Gabe, sondern viel­fach erhält auch der Gebende etwas. Dabei handelt es sich um Imma­te­ri­elles, wie etwa direkt gezeigte Dankbarkeits- oder Ehrerbie­tungs­be­zeu­gungen. Bei der indi­rekten Form des Spen­dens, wie bei der monat­li­chen Über­wei­sung an „Ärzte ohne Grenzen“ oder der Weih­nachts­spende für „Brot für die Welt“, kann es etwa das gute Gefühl sein, etwas mora­lisch Wert­volles getan zu haben. Psycho­lo­gi­sche wie histo­ri­sche Studien weisen auf eine komplexe Viel­falt der Spen­den­mo­tive und erwar­teten Grati­fi­ka­tionen hin.

Gaben­zaun in Zürich; Quelle: twitter.com

Wie aber verhält es sich mit den Gaben­zäunen? Nicht das Verhalten der Obdach­losen oder ihre eigenen Wahr­neh­mungen und Erzäh­lungen stehen im Mittel­punkt der Diskus­sion, sondern die Prak­tiken des Gebens. In der aktu­ellen Bericht­erstat­tung domi­nieren die Hilfe und der ange­nom­mene Bedarf. So liest man eher prak­ti­sche Tipps für die Befül­lung der Gaben­tüten. Die Rede ist etwa von Zahn­bürsten oder lang halt­baren Lebens­mit­teln, nicht aber von Bargeld, Desin­fek­ti­ons­mit­teln oder gar Alkohol. Somit zeigt sich eine von Nicht-Obdachlosen vorge­brachte norma­tive Vorstel­lung davon, welche Gegen­stände Obdach­lose für ihr Leben auf der Straße brau­chen (sollten). Mitbe­stimmen oder gar kontrol­lieren zu können, wofür die Empfän­gerin die Gabe verwendet, treibt Spender*innen schon lange Zeit um und erhöht die Spen­den­be­reit­schaft, wie histo­ri­sche Arbeiten zeigen. Zwar gilt die bereits im Mittel­alter wirk­same Unter­schei­dung zwischen „würdigen“ und „unwür­digen“ Armen in unserer Gesell­schaft nicht mehr linear weiter, was sich z.B. an fehlenden Selbst­ver­schul­dungs­zu­schrei­bungen im Gaben­zaun­dis­kurs fest­ma­chen lässt. Doch die eben­falls pater­na­lis­tisch anmu­tende Idee, nur der Mehr­heits­ge­sell­schaft als sinn­voll erschei­nende Gaben zu spenden sowie diese zu regle­men­tieren, wirkt auch in den Gaben­zäunen weiter. Der Wunsch der Spender, über die Verwen­dung der Gaben mitbe­stimmen zu können, erklärt auch die Beliebt­heit von Sach- gegen­über Geldspenden.

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Gaben­zaun in Berlin; Quelle: notesofberlin.com

Darauf hat die Histo­ri­kerin Gabriele Lingel­bach schon vor einiger Zeit in ihrer Studie zum Spen­den­wesen in der Bundes­re­pu­blik hinge­wiesen. Lingel­bach bietet in dieser Studie noch eine weitere Deutung zur Beliebt­heit von Sach­spenden an, die auch für Gaben­zäune passend erscheint: Die Spen­derin eines Klei­dungs­stücks, das sie zuvor selbst getragen hat, könne sich eine emotio­nale Bezie­hung zur Empfän­gerin vorstellen, welche der erin­ne­rungs­be­legte Woll­pull­over nun wärme. Bei Klei­der­spenden bitten viele Gaben­zaun­be­treiber darum, die Größe sichtbar zu vermerken, so dass die Obdach­losen nicht erst die Beutel aufreißen müssen, um diese zu ermit­teln. Dieser prak­ti­sche Hinweis ermög­licht einen einge­grenzten Nutzer­kreis und lässt sich den Spender eine Person vorstellen, die eine ähnliche Statur hat wie er selbst. In diesem Fall stellt die Spen­derin keinen direkten Kontakt zu Obdach­losen her, sondern imagi­niert eine bestimmte Verwen­dung der Gabe. Darüber hinaus reißen diese Art der Spenden kaum ein spür­bares Loch in die meisten Haus­halts­kassen, was es einfach macht, Gaben­zäune zu bestücken.

Es gibt aber noch weitere Facetten des Spen­dens am Gaben­zaun: die struk­tu­relle Abstands­regel, die in Zeiten einer Pandemie mit den Kontakt­sperren korre­spon­diert. Sie lässt sich ablesen an den Befür­wor­tungen der Gaben­zäune, in denen von den Vorteilen einer „unkom­pli­zierten“ und „anonymen“ Spende die Rede ist. „Helfen kann so einfach sein!“ Dies ist der Deal bei den Gaben­zäunen: Zwar lassen sie keine direkte Dankes­be­zeu­gung zu, aber dafür muss man sich auch nicht weiter mit den Betrof­fenen ausein­an­der­setzen. Der Geber erfährt meist nichts über den Empfänger und umge­kehrt auch nicht. Wenn die Gebende immer auch etwas erhält, dann ist es bei den Gaben­zäunen die Anony­mität, das Nicht-Weiter-Berührtwerden mit dem Menschen, der obdachlos ist.

Wenn nun Abstands­re­ge­lungen einge­halten werden sollen, überall das social distancing empfohlen wird, ist dies zur Bekämp­fung des Virus sicher­lich uner­läss­lich. Doch diese Rege­lungen haben auch Neben­ef­fekte im Umgang mit Obdach­lo­sig­keit, beför­dern sie doch sowohl eine physi­sche als auch eine psycho­lo­gi­sche Distanz. Man könnte argu­men­tieren, dass dies den Obdach­losen ganz recht sei, da die Konfron­ta­tion mit dem Gebenden Scham- oder Entwür­di­gungs­ge­fühle evozieren könne. Doch es gibt auch Stimmen von Obdach­losen, die das Gegen­teil vermit­teln. So zitiert die Home­page des Hamburger Gaben­zauns Ulf N. vor der Pandemie mit den Worten: „Am Gaben­zaun finde ich ganz viel Herzens­wärme. […] Man kann auf einen Kaffee verweilen oder einfach nette Gespräche führen.“ Die Wich­tig­keit, die eine Reihe von Obdach­losen dem Kontakt zwischen ihnen und den Spen­denden beimessen, bestä­tigen auch Inter­views mit Wohnungs­losen im 20. Jahr­hun­dert. Ganz offen­sicht­lich exis­tiert eine Diskre­panz zwischen der von den Spen­denden häufig gewählten Möglich­keit des anonymen Spen­dens am Gaben­zaun mit entspre­chenden Grati­fi­ka­tionen und den Kontakt­wün­schen einiger Nutze­rinnen und Nutzer.

Dass Anony­mität für die Gebenden ein reiz­voller Umstand sein kann, darauf wies schon Ende des 19. Jahr­hun­derts Emil Müns­ter­berg hin, seines Zeichens Leiter der Berliner Armen­ver­wal­tung und Kritiker des Almo­sen­ge­bens. Er beob­ach­tete, dass Bett­lern ein Almosen zu geben, den Gebenden und den Nehmenden für einen Augen­blick verbinde, ohne aber, dass der Nehmende dem Gebenden seine inneren Verhält­nisse offen­bare und ohne, dass der Gebende auch nur versu­chen würde, sich über das Problem des Nehmenden zu infor­mieren. Beim Gaben­zaun findet meist nicht einmal dieser verbin­dende Augen­blick statt. Statt­dessen bleiben sowohl der Gebende als auch der Nehmende mit seiner Reak­tion auf die Spende allein. Dies eröffnet beim Spender den Raum für unge­störte Gedan­ken­spiele. So kann er oder sie sich gut fühlen, geholfen zu haben, dies unge­stört und unhin­ter­fragt vom Blick des obdach­losen Menschen als selbst­ver­ständ­lich etiket­tieren oder sich vorstellen, wie der Empfänger hoch­er­freut seine Tüte öffnet. Der Profit des Gebers bleibt meist implizit, ja im Geheimen und eröffnet ihm damit unend­lich viele Assoziationen.

Gaben­zaun in Zehde­nick; Quelle: maz-online.de

Mit Sicher­heit ist dies bei Geld­spenden eben­falls der Fall, doch anders als bei vielen mone­tären Spenden, die meist allen­falls ein Dankes­schreiben der Orga­ni­sa­tion zur Folge haben, mani­fes­tiert sich die selbst­hin­ge­hängte Tüte am Gaben­zaun. Sie hängt für die Öffent­lich­keit sichtbar aus, avan­ciert zum Foto­gra­fen­ob­jekt und diese Bilder werden publi­ziert. Die mediale Verar­bei­tung der Gaben­zäune wirkt beim Spender als Verstärker des guten Gefühls. Mehr noch: Gaben festigen immer auch Macht­be­zie­hungen, wie der fran­zö­si­sche Sozio­loge Marcel Mauss betonte. Wohnungslos und bedürftig bleibt derje­nige, der eine Tüte an sich nimmt.

Der Gaben­zaun in und nach Corona-Zeiten

Neben der vom Gebenden kontrol­lierten Art der Spende, einer mögli­chen Anony­mität, Dank­bar­keit und der Festi­gung von bestehenden Macht­be­zie­hungen erhalten Spen­de­rinnen in Corona-Zeiten noch eine weitere Grati­fi­ka­tion, nämlich Teil einer Soli­dar­ge­mein­schaft sein zu dürfen. Immer wieder wird die Einrich­tung von neuen Gaben­zäunen in der Corona-Krise in den Medien als „soli­da­ri­sche Idee“ bewertet. Soli­da­risch zu sein, gerade auch mit den Schwa­chen, Bedürf­tigen sei momentan „exis­ten­tiell“, sagte auch der deut­sche Bundes­prä­si­dent Frank-Walter Stein­meier in seiner Video­bot­schaft zur Corona-Krise. Ausdrück­lich lobte er Menschen, die Tüten an Gaben­zäune hängen: „Sie, Sie alle, sind die Heldinnen und Helden der Corona-Krise“. Zwar bezog sich diese Heroi­sie­rung nicht allein auf Gabenzaunbestücker*innen, doch auch sie sollten sich explizit mitge­meint fühlen. Spätes­tens jetzt lieferte die Politik von höchster Stelle ein Selbst­deu­tungs­an­gebot für Gabenzaunspender*innen. Durch die offi­zi­elle Etiket­tie­rung als „Helden und Heldinnen“ dürfte ihr Sozi­al­pres­tige steigen. Denn das zeigt die histo­ri­sche Forschung zu Spenden sehr klar: Wenn in der Umge­bung Werte wie Soli­da­rität hono­riert werden, steigt die gesell­schaft­liche Aner­ken­nung für die Spendenden.

Was die Verlän­ge­rung der Gebe­freu­dig­keit in die Nach-Corona-Zeit angeht, für die der Bundes­prä­si­dent eben­falls eintrat, hätte Stein­meier zu einer diffe­ren­zier­teren Auffor­de­rung kommen können, schließ­lich verfasste er seine (juris­ti­sche) Disser­ta­tion zur Verhin­de­rung und Besei­ti­gung von Obdach­lo­sig­keit, in der er auch auf die histo­ri­sche Dimen­sion des Phäno­mens eingeht. Ein Blick in die Geschichte der Obdach­lo­sig­keit zeigt nämlich, dass Spenden für Obdach­lose stark von den jewei­ligen Zeit­um­ständen abhängig sind. In der unmit­tel­baren Nach­kriegs­zeit war es beispiels­weise gesell­schaft­lich opportun, für Obdach­lose zu spenden, weil Wohnungs­mangel viel mehr Menschen betraf als etwa in den Zeiten des „Wirt­schafts­wun­ders“ der 1950er und 60er Jahre. Die Vorstel­lung, selbst in eine ähnliche Lage geraten zu können und darauf zu hoffen, einem werde gleich­falls geholfen, sollte man sich wohnungslos auf der Straße befinden, moti­vierte Spendende.

Sozi­al­ar­bei­te­rinnen und Sozi­al­ar­beiter spre­chen von einem kurzen Zeit­fenster der forcierten Hilfs­maß­nahmen, das sich gerade öffne, alsbald aber wohl wieder schließen werde. Wenn die Abstands­re­ge­lungen aufge­hoben werden, treten die direkte Konfron­ta­tion sowie die Alltäg­lich­keit des Elends wieder in den Mittel­punkt. Denn trotz aller Versuche, Obdach­lose aus den Städten zu vertreiben, sind sie immer noch da. Der Gaben­zaun erscheint als Kompro­miss – sowohl für die Spender*innen als auch für die Städte –, der sich schon vor der Pandemie und dem social distancing, die ihm aktuell so viel Zuspruch verschaffen, bewährt hat. Doch ob die Spen­den­be­reit­schaft auch nach dem Ende der Krise und ihrer Soli­da­ri­täts­ma­xime ähnlich hoch ist wie im Moment, bleibt fraglich.