Plötzlich bekam alles eine Kultur: Unternehmenskultur, Streitkultur, Subkultur, Wohnkultur, Gesprächskultur, Spaßkultur… Gepflegt schlechtgelaunte Kommentatoren wie etwa der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann bemängeln eine regelrechte Kultur-Inflation, beklagen verlottertes Denken und plädieren für eine Verengung bzw. inhaltliche Bestimmung des Kulturbegriffs. Denn wenn alles Kultur ist, so Liessmann, würden kulturpolitische Interventionen und eine kulturpädagogische Erziehung sinnlos, würden Shakespeare und Dschungelcamp nur noch als Spielarten einer alles einebnenden Gesamtkultur gelten, die keine Bewertung mehr kennt.

Bild: David Irvine; Quelle: obviousmag.org
Doch das Plädoyer für einen weiten Kulturbegriff ist schon älteren Datums. Tatsächlich war es der große Soziologe Max Weber (1864-1920), der, intellektueller Tändelei ganz unverdächtig, den Kulturbegriff aus seinem ehemals engen wertenden Korsett befreite und damit der Gegenüberstellung von Hochkultur und Populärkultur die Grundlage entzog. Aber noch in einer anderen Gestalt ist das Zauberwort Kultur zu einer universellen Chiffre geworden und findet sich in Konzepten wie Leitkultur, Multikulturalismus oder Kampf der Kulturen als Bezeichnung für Gruppenzugehörigkeiten wieder. Was also heißt Kultur?
Zwei Arten von Diskursen
Beim Versuch, genauer zu bestimmen, was gemeint ist, wenn von Kultur die Rede ist, muss man zwischen Alltagssprache und wissenschaftlichen Definitionen, Konzepten und Theorien unterscheiden, die allerdings vielfach aufeinander bezogen sind, sich vermischen und gegenseitig beeinflussen. Schließlich sollen Modelle wie „Multikulturalismus“ und „Clash of Civilizations“ aktuelle gesellschaftliche Phänomene erklären – sie sind Diagnosen des Zeitgeschehens, aus dessen Vokabular sie sich notwendigerweise bedienen und das sie umgekehrt auch wieder prägen. Werden theoretische Konzepte zu allgemeinen Schlagworten, weil sie offenbar eine große Resonanz finden, können sich die ursprünglichen Ansätze allerdings erheblich verändern und auch widersprüchliche Ideen unter einem einzigen Begriff vereinen. Ein Beispiel ist die erneute Beliebtheit des Begriffs „Kulturkreis“, den heute wohl kaum noch jemand mit der rassistisch aufgeladenen Wiener Kulturkreislehre in Verbindung bringt, der aber nicht zuletzt mit der deutschen Übersetzung von Samuel Huntingtons Clash of Civilizations als Kampf der Kulturen eine geradezu atemberaubende Renaissance erlebt hat. Die dahinterstehende Idee ist unabhängig von jeder Kritik und der jeweils konkret benutzten Begrifflichkeit – Kultur, Zivilisation, Kulturraum, Kulturkreis – wirkungsmächtig. Mit der Vorstellung, es gäbe Kulturen, denen man angehört, die sich gegenüberstehen und vermischen oder bekämpfen, werden extrem komplexe globale und gesellschaftliche Phänomene allerdings auf ein einziges Erklärungsmuster und ein Dispositiv längst überholter ethnographischer Beschreibungen reduziert.
Bedeutungsgeflecht und Text
Mit der Aufsatzsammlung Dichte Beschreibung (1973) des amerikanischen Kulturanthropologen Clifford Geertz hielt Max Webers breiter Kulturbegriff im Feld der Ethnologie Einzug, die lange Zeit versucht hatte, ethnische Gruppen anhand typischer Sitten und Gebräuche sowie einer gemeinsam geteilten Sprache und spezifischer religiöser Praktiken abzugrenzen. In der Praxis überschnitten sich allerdings die vermeintlich „stammestypischen“ Gruppenzugehörigkeiten, Wirtschaftsweisen und Kosmologien, und zudem konnten interne historische Veränderungen sowie die Auswirkungen von externen Faktoren wie Sklaverei und Kolonialismus kaum mit der Vorstellung von allein im Rhythmus der Jahreszeiten lebenden Völkern ohne Geschichte in Einklang gebracht werden. Geertz hingegen verstand Kultur als „Ensemble von Texten“, vertrat einen „semiotischen Kulturbegriff“ und schrieb dazu:
Ich meine mit Max Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe.
Weber wandte sich dagegen, kulturelle Erscheinungen von vorn herein mit einem Werturteil zu verknüpfen. So waren etwa Geld, Prostitution und Religion für ihn zunächst einmal alles Bestandteile von Kultur:
… Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft ist nicht etwa, daß wir eine bestimmte oder überhaupt irgendeine „Kultur“ wertvoll finden, sondern daß wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen.
Mit diesem breiten Kulturbegriff rücken also nicht typische Aspekte unterschiedlicher „Kulturen“ in den Blick, sondern die grundsätzliche Fähigkeit der Menschen, sich zur Welt zu verhalten und diese sinnvoll zu ordnen. Für Geertz ist denn auch die Entschlüsselung des Bedeutungsgewebes, die Interpretation von gesellschaftlichen Phänomenen, die „zunächst rätselhaft erscheinen“, eine der wesentlichen Operation der Ethnologie. Das Textensemble der Kultur/en kann in einem semiotischen Dreischritt – Beobachten, Deuten, Interpretieren – „gelesen“ werden.
Mit diesem neuen Kultur- und Textbegriff ging eine produktive Selbstbefragung in der Ethnologie und verwandten Fächern einher, die sich zunehmend mit der Kritik anti-kolonialer Bewegungen konfrontiert sahen und deren Diskussionen in engem Austausch mit Solidaritätsbewegungen standen: Wie lässt sich die (oft schriftlose) Realität der Anderen in fernen Ländern in unseren Texten abbilden? Was geht bei diesen Übersetzungsprozessen verloren? Können und dürfen wir überhaupt im Namen „fremder Kulturen“ schreiben, und welche Bedeutung hat unser eigener kultureller Hintergrund bei der Forschung, ja letztlich auch innerhalb der Solidaritätsbewegungen? Zwar wandten sich solche Fragen gegen die Exotisierung der Anderen, aber paradoxerweise verfestigten sie die Dichotomien zwischen der eigenen und der fremden Kultur. Wenn nämlich z.B. Clifford Geertz den balinesischen Hahnenkampf (so der Titel seines wohl berühmtesten Essays) einer kunstvollen semiotischen Lektüre unterzieht, um die dahinterstehende Bedeutung zu ergründen, bleibt er doch der westliche Ethnologe/Beobachter, der die fremde, die balinesische Kultur interpretiert, und vergleicht nicht etwa die Hahnenkämpfe auf Bali mit Hundekämpfen in England.
Multi- und andere Kulturalismen

Janelle Monae, „I Like That“; Quelle: YouTube.com
Als unter dem Eindruck einer dekolonisierten Welt und zunehmender wirtschaftlicher Globalisierung das Konzept des Multikulturalismus ab den 1980er Jahren auch in Deutschland populär wurde, war damit die Einsicht verbunden, dass man nicht in ferne Länder reisen musste, um mit fremden Gebräuchen, Küchen, Sprachen, Praktiken und Auffassungen konfrontiert zu werden. Und mit der Anerkennung einer multikulturellen Realität ging auch zugleich die Behauptung vom „Scheitern von Multikulti“ einher. Dabei verweist die Rede vom Scheitern darauf, dass das Konzept Multikulti nicht einfach der Feststellung von Tatsachen dient – Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft, in der die sogenannten Gastarbeiterfamilien heute in dritter Generation leben – sondern sich mit einem normativen Anspruch verbindet, der aber selten konkret formuliert wird. Ab den 1980er Jahren verlor die Klage über die niedere Popkultur als Gegenüber einer wertvollen Hochkultur an Glanz, nun ging es um Fragen der eigenen und der fremden Kultur. Wie aber lässt sich Kultur positiv definieren? Was in der Ethnologie gescheitert war, scheiterte nun auch im Alltag der Großstädte.

Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder mit Kreuz, April 2018; Quelle: bento.de
Was ist z.B. deutsche Kultur? Gehören nur jene Autoren, Künstlerinnen, Musiker und Komponistinnen dazu, die sich selbst als „deutsch“ verstanden haben und verstehen? Ab wann sind eingewanderte Gebräuche einheimisch? Formen die vielen regionalen Küchen eine einzige deutsche Küche? Ist das „Dschungelcamp“ Teil deutscher Kultur, und auch der Nacktbadestrand? Problematisch ist es zudem, der jeweiligen Kultur einen je eigenen „Wertekanon“ zuzuordnen, denn sind z.B. Respekt vor dem Alter, Familiensinn, das Verbot zu töten oder Gemeinsinn etwas kulturell Spezifisches? Andere Errungenschaften, wie die juristische Gleichstellung von Mann und Frau, das allgemeine Wahlrecht oder bürgerliche Freiheiten werden kurzerhand einer westlichen „Kultur“ zugeschlagen, ohne auf die langen emanzipatorischen Kämpfe innerhalb der anderen „Kulturen“ einzugehen, etwa der Kampf um Bürger- und Frauenrechte sowie die Abschaffung von Unterdrückung und Sklaverei in den antikolonialen Kämpfen: von der Haitianischen Revolution bis zur ersten demokratischen Wahl in Südafrika.
Auch freundliche Ideen, wie etwa der Multikulturalismus und verwandte Konzepte, unterliegen der Gefahr, Menschen aufgrund ihrer angenommen oder tatsächlichen Herkunft „über einen kulturellen Kamm zu scheren“ (A. Nassehi) – ob sie wollen oder nicht. So lenkt das gut gemeinte Postulat, zwischen den „Kulturen“ sollten Respekt und Toleranz herrschen, davon ab, dass hier ein untauglicher, weil kollektivierender Kulturbegriff mitgeschleppt wird, der nicht erklären kann, wer in welcher Hinsicht was und wen respektieren soll. Darf ich bestimmte kulturelle Deutungen, Sinngebungen und Alltagspraktiken in meiner Nachbarschaft oder in fernen Ländern ablehnen oder befremdlich finden, oder muss eine Kultur als Ganzes respektiert werden? Sowie man diese Frage auf die eigene Gesellschaft anwendet, zeigt sich ihre ganze Problematik: Was ist denn unsere Kultur? Eine nationale, eine in Kunst und Literatur wurzelnde, eine akademisch-liberale? Und warum sollten wir nicht bestimmte Aspekte „unserer Kultur“ kritisieren und andere bewahren oder weiterentwickeln? Und dies den „anderen Kulturen“ ebenso zugestehen?
Können Kulturen kämpfen?
Um der Falle zu entkommen, entweder jeder Fremdheit wertend und mit universalistischem Anspruch entgegenzutreten, d.h. die eigene Kultur als universell gütig und normal zu setzen, oder aber jede Kritik z.B. an Diskriminierung und Unterdrückung als Respektlosigkeit gegenüber „fremden Kulturen“ zu geißeln, lohnt der Blick in einen weiteren Klassiker.
Der 1908 in Ungarn geborene Psychoanalytiker und Anthropologe Georges Devereux analysierte in Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften aus dem Jahr 1967 die alltägliche affektive Verstrickung „des Menschen mit dem Phänomen, das er untersucht“. Dabei wird die Beschäftigung mit eigenen Gefühlen keinesfalls gegen eine angestrebte „Objektivität“ ausgespielt, im Gegenteil. Devereux kritisiert gerade, dass ein mangelndes Bewusstsein der eigenen Subjektivität objektiven Beobachtungen und Interpretationen im Wege steht. Er zeigt an zahlreichen ethnologischen Beispielen, dass nicht nur die bewusste oder unbewusste Übertragung eigener Gefühle und Werte auf andere Gesellschaften problematisch ist, sondern auch gerade der löbliche Versuch, dies nicht zu tun. Werden Reaktionen wie Ekel, Abscheu, Ablehnung, usw. als eurozentrische Wertungen verdrängt, wird also der Versuch gemacht, eine völlig neutrale und kulturrelativistische Position einzunehmen, kann dies gerade zu Missverständnissen und Ausblendungen führen. Jede interne Kritik der angeblich ewig gültigen Sitte und Bräuche der „Anderen“ wird dann geflissentlich übersehen, jeder Wandel von Rechts- und Moralvorstellungen auf scheinbar allein äußeren Zwang zurückgeführt. Anstatt also für oder gegen Multikulturalität Stellung zu bezieht oder deren Scheitern zu festzustellen, gilt es genau zu erklären, was mit „Kultur“ gemeint ist und wer im Namen der Kultur spricht. Zu oft spiegelt das Bild von einer „fremden Kulturen“ nämlich allein deren Herrschaftsdiskurse wider, und zeigt weder ihre Vielfalt noch die ihr ebenfalls zugehörigen abweichenden, dissidenten Stimmen.
Kultur-Politik
Was also ist Kultur? Es handelt sich um einen Containerbegriff, dem es zu eigen ist, dass er zugleich sehr groß gedacht werden kann, etwa im globalen Maßstab und mit globaler Erklärungskraft wie im Fall von Huntingtons weltumspannenden „Kampf der Kulturen“, oder auch sehr klein, bezogen auf einzelne Dinge oder Praktiken innerhalb sehr kleiner Gruppen. Oder er kann als Bindestrichkultur alles und nichts meinen – Stichwort „Humor-Kultur“.

Janelle Monae, PYNK: Quelle: YouTube.com
Vor allem aber: Jeder Versuch, Kultur inhaltlich, als Kern oder Essenz zu definieren, muss scheitern, und wird gefährlich, wenn sie dazu herhalten muss, das Politische zu begründen. Denn wer definiert, was zur Kultur einer Nation – gar zu einer „Leitkultur“ gehört? Werden Konflikte des Zusammenlebens immer schon als „kulturelle“ Konflikte bzw. Konflikte zwischen Kulturen wahrgenommen, verhindert das die genaue Analyse der jeweiligen Probleme, bei denen es oft weit mehr um Fragen von sozialer Differenz, des Zugangs zu gesellschaftlichen Ressourcen, um das Geschlecht und Alter der Betroffenen oder um ihre Ausbildung, geht als um ihre „Kultur“.
Keine Frage: „Kultur“ ist ein praktisches Wort, das man im Alltag schnell, ungenau, ja oft widersprüchlich verwendet und verwenden darf. In politischen Auseinandersetzungen jedoch muss die Zeit sein, jeweils genau zu erklären, was das Zauberwort „Kultur“ im konkreten Fall meinen soll. Und vielleicht lohnt es, ab und an mit jenen Wissenschaften das Gespräch zu suchen, die sich schon lange vergeblich darum bemühen, „Kultur“ zu definieren…