
Rufus Scott ist ein begnadeter Jazz-Schlagzeuger, der sich im New York der späten 1950er Jahre schon über Harlem hinaus einen Namen gemacht hat. Nach einem Konzert lernt er eine junge Frau kennen, Leona, eine Weiße aus Georgia, mit der er auf der anschließenden Party Sex hat. Sie zieht bei ihm ein. Die Wohnung ist zu klein, er hat gerade keine weiteren Gigs in Aussicht, nur sie verdient ein wenig Geld als Kellnerin. Die Sache endet nicht gut. Auf der Straße schlägt dem Paar unverhohlener Hass entgegen, sie trinken viel zu viel, und Leona verliert ihren Job. Sie werfen sich gegenseitig ihre Hautfarbe vor, streiten und schlagen sich, bis Rufus Leona vergewaltigt, immer wieder. Sie trennen sich, verzweifelt, weil sie sich trotz allem lieben.
James Baldwins Roman Ein anderes Land (Another Country, 1962) setzt in dem Moment ein, als das alles für Rufus gerade hinter ihm liegt – und ihn völlig aus der Bahn geworfen hat. Allein, hungrig und völlig pleite streift er durch ein nachtschwarzes, kaltes, heruntergekommenes New York, schläft in Unterführungen oder in Kinos und wagt es nicht mehr, in seinem alten Club in Harlem, wo er oft spielte, oder bei seiner Familie aufzutauchen. Ein letztes Treffen in einer Bar mit seinen – weißen – Freunden, die ihm helfen wollen, verlässt er durch den Hinterausgang. Er steigt in eine U-Bahn, die ihn weit oben in der Stadt zur Madison Avenue Bridge bringt, die Harlem mit der South Bronx verbindet. Er steigt auf das Geländer, richtet den Blick zum Himmel und springt ins dunkle Wasser: „Ok, du gottverdammter, hundsdreckiger Wichser, ich komme zu dir.“

James Baldwin (1924-1987); Quelle: blackpast.org
Man muss James Baldwin (1924-1987) eigentlich nicht mehr vorstellen – er war in den USA schon in den Fünfzigerjahren ein gefeierter, wenn auch wegen seinem offenen Sprechen über Homosexualität umstrittener Schriftsteller, und Another Country wurde schon 1964 ins Deutsche übersetzt, zuerst in Westdeutschland, dann bis in die 1980er Jahre in mehreren Auflagen in der DDR. Die Neuausgabe dieses Romans und der ganzen Reihe seiner Werke, die der dtv-Verlag gegenwärtig unternimmt, ist dennoch ein Ereignis. Nicht nur, offensichtlich, weil Baldwin im Zuge der weltweiten Black Lives Matter-Proteste brennend aktuell erscheint, sondern besonders auch wegen der neuen Übersetzung durch Miriam Mandelkow. Sie hat sich, wie sie in ihrer Nachbemerkung zum Buch schreibt, zum Beispiel sehr genau überlegt, wie die beiden Varianten des N-Wortes zu übersetzen sind, in welchem Kontext sie angemessen sind und in welchen nicht, und sie trifft den Ton oder vielmehr die unglaubliche Breite der Töne von Baldwins Sprache, die zwischen zarter Sorgfalt und rauer Grobheit in unzähligen Farben schillert, mit stupender Leichtigkeit.
Rassismuskritik ohne schwarz-weiß Denken
Es ist auch fast unnötig zu sagen, dass der Rassismus in den USA Baldwins Lebensthema war. Das war zuletzt im Dokumentarfilm I Am Not Your Negro (Raul Peck, 2017) zu sehen, der Baldwin immer wieder als brillanten Redner zeigt, der in ebenso scharfgeschliffenen wie eleganten Worten sein meist weißes Publikum daran erinnerte, wie sehr der Rassismus nicht nur die Schwarzen quält und herabwürdigt, sondern im Gegenzug auch die Weißen zu „Monstern“ macht, wie er sagte. Ja, noch mehr: Der Rassismus, so Baldwin, zerfrisst und zerstört die amerikanische Gesellschaft wie ein Krebs von innen her. In seinem sehr persönlichen, als Brief an seinen Neffen gestalteten Essay The Fire Next Time (1963), der ebenfalls schon in der Übersetzung von Miriam Mandelkow bei dtv erschienen ist (Nach der Flut das Feuer, 2020), erzählt er, dass es seine jüdischen Schulfreunde und ihr Sprechen über den Holocaust waren, die ihn nicht nur an seinem christlichen Glauben zweifeln ließen. Vielmehr, so notierte er hier, „rückte mein Umgang mit Juden das Thema der Hautfarbe, das ich bisher so verzweifelt gemieden hatte, ins furchtsame Zentrum meines Bewusstseins.“
Daher war für ihn auch der gegen den weißen Rassismus gerichtete, gleichsam inverse Rassismus von Malcom X, den er gleichwohl bewunderte und als seinen Freund bezeichnete, keine Alternative:
Wenn man eine Gruppe von Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder Hautfarbe mit besonderer Abneigung behandeln darf, gibt es keine Begrenzung des Leids, dem man sie unterzieht, und, da die gesamte ‚Rasse‘ aus unerfindlichen Gründen angeklagt ist, keinen Grund, sie nicht mit Stumpf und Stiel ausrotten zu wollen. Genau das haben die Nazis versucht. Einzigartig war nur ihre Methode.
Für Baldwin hingegen waren die Weißen keine „Teufel“, sondern genauso verletzbare Menschen wie Schwarze und alle anderen auch. Der Roman Ein anderes Land verfährt in seiner Darstellung daher in keiner Weise schwarz-weiß, das heißt in platter Weise polarisierend – weit entfernt davon. Die Geschichte, die nach dem Suizid von Rufus einsetzt, handelt vielmehr von den verwickelten Lebens- und Liebesgeschichten seiner vier weißen Freunde und seiner Schwester Ida. Diese verbindet sich nach Rufus’ Tod mit dessen „einzigen“ Freund Vivaldo, einem mit dem quälenden Schreiben seines ersten Romans befassten Brooklyn-Italo, in einer explosiven Liebesbeziehung. Sie durchzieht als ein Exemplum schwarz-weißer Verstrickungen das ganze Buch.
Dazu kommen Cass und ihr Mann Richard, Sohn eines armen polnischen Einwanderers, der mit Cass eine Frau aus einer beinahe aristokratischen amerikanischen Familie geheiratet hat. Als gelangweilte Hausfrau kümmert sie sich um die zwei Jungs – die einmal von einer Handvoll Schwarzer Teenager auf dem Schulhof scheinbar grundlos verprügelt werden –, während er schlechtgelaunt Tag und Nacht an seiner Schriftstellerkarriere arbeitet, von der er, alle seine Freunde und vor allem auch Cass wissen, dass sie zwar finanziell lukrativ, literarisch aber wertlos ist. Und da ist schließlich noch der Schauspieler Eric, ein rothaariger Südstaatler aus ebenfalls reicher Familie, den man zuerst in seinem selbstgewählten Exil in Südfrankreich antrifft – der Roman ist offenkundig von autobiographischen Motiven durchzogen –, wo Eric mit dem ehemaligen Strichjungen Yves zusammenlebt. Eric reist dann aber in die USA zurück, weil er ein attraktives Angebot am Broadway erhalten hat; sein geliebter Yves wird ihm später nachfolgen.
Lebendige Figuren, kompliziert verhakt
Baldwin hat sehr viel Geduld mit seinen Figuren, gibt ihnen alle Zeit, die es braucht, dass sich ihre Beziehungen in kompliziertester Art ineinander verhaken können, weil er sie nur so als Menschen zeigen kann. Sie reden ohne Unterlass, trinken viel (die Flaschen mit Scotch oder Bourbon sind ständig griffbereit), rauchen eine nach der anderen, lauschen im Jazzclub Idas ersten Auftritten als Sängerin – und bewegen sich dabei wie Verlorene im Straßenraster New Yorks, aufeinander zu oder voneinander weg. Die Stadt ist, nur leichterhand angedeutet und doch nicht nebenbei, der geographische Ort unerbittlicher sozialer Differenz, die Harlem von der Upper West Side oder die Boheme im Village von den weißen Slums auf der Lower East Side trennt. Aber die Stadt ist auch die Palette, auf der Baldwin die Farben der vielen Stimmungen mischt, in die er seine Protagonisten taucht. „Der Regen strömte herunter wie eine Wand“, heißt es an einer Stelle. „Der Asphalt war breit und weiß und regenblank. Die grauen Gehwege tanzten und glänzten und kippten. Nichts regte sich – kein Auto, kein Mensch, keine Katze; und nur der Regen war zu hören.“ Dann wieder ist die Stadt unerträglich heiß, von Lärm erfüllt, und sie bietet Vivaldo „einen schauderhaften Blick auf die wartenden, dampfenden Straßen“.
Ida und die vier Freunde von Rufus, die in diesem New York durch den Tag kommen müssen, haben es auch miteinander nicht leicht. Vivaldo denkt zum Beispiel darüber nach, dass er Ida – vielleicht – einmal zu seiner Familie in Brooklyn mitnehmen möchte, die sich in ihren schlimmsten Alpträumen nicht vorstellen kann, dass ihr Sohn mit einer Schwarzen zusammenlebt. Als er sie fragt, ob sie denn nicht denke, dass es Hoffnung geben könne, seine Eltern würden sie als seine Freundin akzeptieren, wird ihre Stimme überdeutlich, grell und scharf: „‚Ob es für sie Hoffnung gibt oder nicht, schert mich einen Scheißdreck. Ich weiß nur, dass ich keine weißen Scherzkekse mehr brauche, die sich nicht entscheiden können, ob ich nun ein Mensch bin oder nicht. Wenn sie es nicht wissen, mein Schatz, Pech für sie, und ich hoffe, sie fallen ganz langsam tot um, unter großen Schmerzen.‘“ Und überhaupt: „Seit einem Monat wohne ich bei dir, und du hältst es immer noch für einen tollen Scherz, mich zu deiner Mutter mitzunehmen! Verdammt noch mal, meinst du, sie ist eine bessere Frau als ich, du großes, weißes, liberales Arschloch?‘“
Ein utopisches Gegenbild
Es ist nicht ihr einziger Streit dieser Art. Die mit Projektionen, Vorwürfen und blankem Hass überladene Trennlinie zwischen Schwarz und Weiß, die auch mitten durch ihre Beziehung hindurch verläuft, ist vielmehr ständiges Thema. Aber Baldwin lässt Ida und Vivaldo nicht scheitern – das ist sein Optimismus, von dem er in einem Interview gesprochen hat: Weil er lebt und leben möchte, müsse er Optimist sein, und es ist offensichtlich die Liebe, die ihm Grund dazu gibt. Diese ist allerdings in anderer Weise kompliziert und insgesamt das dominierende Thema des Buches. Die von ihrem in Arbeit vergrabenen Mann alleingelassene Cass, die sich wünscht, dass „irgend ein Lastwagenfahrer, irgendwer“ sie wieder einmal anfasst, beginnt eine Affäre mit Eric (die „Südstaatenschwuchtel“, wie Ida sagt), der erstaunt seine Lust auf diese Frau seines Freundes Richard entdeckt – um dann in derselben dramatischen Nacht, in der Richard Cass zur Rede stellt und sie blutig schlägt, mit seinem alten Freund Vivaldo im Bett zu landen.
Das klingt in dieser Kürze vielleicht schäbig und schlüpfrig, aber Baldwin schildert solche Nächte ohne jede Obszönität – diese ist den Flüchen vorbehalten – und mit, wie soll man sagen, allem Respekt vor den verworrenen Gefühlen, Sehnsüchten und Lüsten seiner Protagonisten. Die erotische Liebe und der Sex zweier Männer, die beide wissen, dass diese Nacht die einzige gewesen sein wird, ihre Transgression konventioneller Moral ebenso wie ihr – kontrollierter – Verrat an ihren beiden Liebsten, an Ida und Yves, wirkt wie ein utopisches Gegenbild zur schwarz-weißen Realität einer in ihrer Segregation, ihrer heuchlerischen Rechtschaffenheit und ihrem Hass erstarrten Gesellschaft.
Und Rufus? Was hat das alles mit Rufus zu tun? Nun, eigentlich nichts. Rufus ist tot, und seine zurückgebliebenen Freunde und seine Schwester sprechen nur wenig über ihn, wenn überhaupt. Rufus ist im Plot des Romans nicht ‚für etwas‘ gestorben, sein Tod war nicht ‚sinnvoll‘, eröffnet keine Einsichten. Das – allerdings ungleich verteilte – Unvermögen von Schwarzen und Weißen, friedlich zusammenzuleben und sich gegenseitig zu respektieren, was Rufus letztlich in den Tod getrieben hat, besteht zwar fort. Aber Rufus’ Tod hält für die Überlebenden keine Botschaft und keine Lehre bereit. Es gibt keinen das Leben transzendierenden Maßstab, keine ‚letzte‘, ‚absolute‘ Referenz wie etwa den Tod – Rufus’ Tod –, von dem aus sich eine Moral, eine Verhaltensregel für das Zusammenleben ableiten ließe. Diese Regel, so zeigt dieses bemerkenswerte, streckenweise atemberaubende, schöne und berührende Buch, ist nur im Leben selbst zu finden, ohne jede Sicherheit des Gelingens.