Nach dem Tod des langjährigen Herrschers Idriss Déby Itno hat im Tschad ein Militärrat die Macht übernommen und die Verfassung ausgesetzt – gegen die Hoffnung der Jugend des Landes und mit der Unterstützung Europas, das sich wenig für dessen Demokratie interessiert.

  • Helga Dickow

    Helga Dickow ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arnold-Bergstraesser-Institut in Freiburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind ethnische und religiöse Konflikte sowie Politik und Sicherheit in der Sahelzone.

Der zentral­afri­ka­ni­sche Tschad hat seit seiner Unab­hän­gig­keit 1960 noch keinen fried­li­chen Macht­wechsel erlebt. Sein erster Präsi­dent, Ngarta Tombal­baye, wurde 1975 nach diversen Aufständen gegen seine Herr­schaft von Soldaten erschossen. Anschlie­ßend lösten sich Bürger­kriege und bewaff­nete Umstürze tscha­di­scher Rebellen ab, die immer wieder aus dem benach­barten Sudan in Rich­tung der Haupt­stadt N’Djamena vorrückten. So kam – geduldet von der ehema­ligen Kolo­ni­al­macht Frank­reich – 1990 auch Idriss Déby Itno an der Spitze des Move­ment Patrio­tique du Salut (MPS) an die Macht. Er gehörte zur ethni­schen Gruppe der Zaghawa, die ca. 3 % der Bevöl­ke­rung stellen (es leben ca. 200 ethni­sche Gruppen im Tschad). Déby ließ die Macht nicht mehr los, bis er sich getreu der Tradi­tion der Zaghawa als oberster Befehls­haber zu den Truppen begab und Mitte April 2021 über­ra­schend – und nach offi­zi­ellen Angaben – bei einem Rebel­len­an­griff getötet wurde, einen Tag nur nach der vorge­zo­genen Verkün­dung seines Wahl­siegs, der ihm sein sechstes Präsi­dent­schafts­mandat ermög­li­chen sollte. Nach dem Tod des lang­jäh­rigen Präsi­denten hatten Oppo­si­tion, Zivil­ge­sell­schaft und vor allem viele junge Tschader*innen auf einen poli­ti­schen Neuan­fang und auf Gespräche am runden Tisch mit allen poli­ti­schen Kräften im In- und Ausland zu hoffen gewagt. Auch die Rebellen sollten einge­schlossen werden. Doch statt eines poli­ti­schen Neuan­fangs zeichnet sich eine weitere „Dynas­ti­sie­rung“ der alten Macht­elite ab – mit euro­päi­scher Unterstützung.

Macht­über­nahme

Gleich­zeitig mit der über­ra­schenden Todes­nach­richt ihres Präsi­denten im staat­li­chen Fern­sehen erfuhren die Tschader*innen von der Macht­über­nahme des mili­tä­ri­schen Über­gangs­rats, des Conseil mili­taire de tran­si­tion (CMT), unter der Leitung von General Mahamat Idriss Déby, einem der Söhne des getö­teten Präsi­denten. Der Spre­cher des CMT verkün­digte, dass die Verfas­sung außer Kraft gesetzt, Minister*innen ihres Amtes enthoben sowie das Parla­ment aufge­löst worden seien. General Déby, bishe­riger Kopf der Elite­truppen, erprobt, ruchlos im Kampf und Chef der Präsi­di­al­garde, ist nun der neue starke Mann im Staat. Eine Über­gangs­ver­fas­sung sichert ihm mehr Rechte als seinem Vater zu. Vergeb­lich wurde schon während der 30-jährigen auto­ri­tären Herr­schaft Déby Seniors ein inklu­siver Dialog ange­mahnt, um zu einer demo­kra­ti­schen Neuord­nung und einer gerech­teren Vertei­lung der Ressourcen des Landes zu gelangen. Déby hatte jedoch eisern an seiner abso­luten Macht fest­ge­halten. Die neue Verfas­sung der soge­nannten Vierten Repu­blik von 2018 hätte ihm sogar die Möglich­keit zwei weiterer Amts­zeiten bis 2033 gegeben. Die Über­gangs­ver­fas­sung, die den Sohn begüns­tigt, soll 18 Monate gelten, kann einmal verlän­gert werden und in einen Wahl­pro­zess münden. Die außer Kraft gesetzte Verfas­sung hatte eine Über­gangs­re­ge­lung in der Person des Parla­ments­prä­si­denten und Ausschrei­bung von Neuwahlen inner­halb von drei Monaten vorge­sehen. Doch das ist nun alles Makulatur.

Während des Wahl­kampfs im Vorfeld der dies­jäh­rigen Präsi­dent­schafts­wahlen waren die demo­kra­ti­sche Oppo­si­tion und Zivil­ge­sell­schaft zuneh­mend diskre­di­tiert und staat­li­chen Repres­sionen ausge­setzt worden. Beim Versuch, den Oppo­si­ti­ons­kan­di­daten Yaya Dillo zu verhaften, der wie Déby zur ethni­schen Gruppe der Zaghawa gehört, wurden die Mutter und ein Sohn Dillos erschossen. Als Reak­tion auf diese Gewalttat hatten poli­ti­sche Schwer­ge­wichte wie Saleh Kebzabo und andere lang­jäh­rige Oppo­si­ti­ons­po­li­tiker schluss­end­lich ihren Boykott der Präsi­dent­schafts­wahlen erklärt. Pahimi Padacké hingegen blieb Kandidat und errang 10,3% der Stimmen. Er war bis zur Abschaf­fung des Amts 2018 Premier­mi­nister unter Déby gewesen und galt nicht wirk­lich als sein erklärter poli­ti­scher Gegner. Viel­mehr wahrte das Regime Déby mit seiner Teil­nahme den Anschein eines demo­kra­ti­schen Wett­be­werbs und eine demo­kra­ti­sche Fassade. Beides war für die inter­na­tio­nale Aner­ken­nung Débys wichtig – insbe­son­dere für den mili­tä­ri­schen Bünd­nis­partner Frankreich.

Fran­zö­si­sche Komplizenschaft

Schließ­lich hatten sich Déby und Teile der tscha­di­schen Armee seit 2013 als uner­läss­li­cher und schlag­kräf­tiger Partner Frank­reichs im Kampf gegen den isla­mis­ti­schen Terro­rismus im Sahel profi­liert. Seite an Seite kämpften tscha­di­sche und fran­zö­si­sche Einheiten gegen das Vorrü­cken von Al-Qaida im Norden Malis. Inzwi­schen stellt das tscha­di­sche Militär die dritt­größte Einheit in der UN-Friedensmission MINUSMA (nach Bangla­desch und Ägypten) und die größte in der Eingreif­truppe der G5 Sahel­staaten. Erst im März 2021 hatte der Tschad ein Bataillon von 1.200 Mili­tärs in das Drei­län­dereck Burkina Faso – Mali – Niger entsandt. Das Haupt­quar­tier von Barkhane, der fran­zö­si­schen Mission zur Bekämp­fung des isla­mis­ti­schen Terro­rismus, befindet sich in N’Djamena. Und nicht zuletzt unter­hält die ehema­lige Kolo­ni­al­macht Frank­reich seit den 1970er Jahren perma­nente Mili­tär­basen in N’Djamena, Abéché und Faya. Seit dem Verlust der Basis in der Zentral­afri­ka­ni­schen Repu­blik können nur von hier aus die ehema­ligen fran­zö­si­schen Kolo­nien schnell ange­flogen werden. Zusätz­lich bieten die Weiten des Tschad der fran­zö­si­schen Luft­waffe groß­ar­tige Übungs­plätze. Ob all dies Emma­nuel Macron dazu bewogen hat, an den Trau­er­fei­er­lich­keiten für Präsi­dent Déby in N’Djamena teil­zu­nehmen und so einen demo­kra­ti­schen Über­gang zu erschweren? Immerhin zerstoben mit der Anwe­sen­heit des fran­zö­si­schen Präsi­denten, seines Außen­mi­nis­ters Le Drian sowie der des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell alle Hoff­nungen der tscha­di­schen Zivil­be­völ­ke­rung auf einen poli­ti­schen Dialog: In seiner Ansprache betrau­erte Macron nicht nur den Verlust eines guten Freundes und zuver­läs­sigen Kampf­ge­fährten Frank­reichs. Er stellte der neuen Führung des Tschad zudem einen Frei­brief aus, indem er ihr fran­zö­si­sche Unter­stüt­zung und die Inte­grität des Landes zusagte.

Anti­fran­zö­si­sche Aktionen in N’Djamena und anderen Städten ließen daraufhin nicht auf sich warten. Zu frisch waren noch die Erin­ne­rungen an 2019, 2008 und 2006, als vorrü­ckende tscha­di­sche Rebellen nur mit fran­zö­si­scher Unter­stüt­zung abge­wehrt werden konnten. 2019 benutzte Frank­reich dazu Flug­zeuge der eigenen Opera­tion Barkhane, was nicht zum Mandat von Barkhane gehört und zu einer Anfrage im fran­zö­si­schen Parla­ment führte. Débys Macht­er­halt wurde so jeweils gesi­chert, ein Dialog fand nicht statt, jede Hoff­nung auf poli­ti­schen Wechsel wurde erstickt. Wird sich die Geschichte nun wiederholen?

Mit harter Hand gegen Protestierende

Seit dem Tod Débys kämpfen immer noch Einheiten der Rebel­len­gruppe „Front für Eintracht und Wechsel im Tschad“ (Front pour l’alternance et la concorde au Tchad – FACT) auf tscha­di­schem Terrain oder halten sich in den Grenz­re­gionen des benach­barten Niger auf. Die FACT hatte am 11. April, dem Datum der Präsi­dent­schafts­wahlen, ihren Angriff aus Libyen in Rich­tung N’Djamena gestartet war weit ins Landes­in­nere vorge­rückt. Der Über­gangsrat CMT hat jegliche Verhand­lungen mit den „Terro­risten“, wie er die FACT bezeichnet, kate­go­risch abge­lehnt. Die Kämpfe gehen weiter. Fran­zö­si­sche Aufklä­rungs­flug­zeuge geben offen­sicht­lich Posi­tionen der FACT an die tscha­di­sche Armee durch. Frank­reich, so ist von kriti­schen Stimmen in sozialen Netz­werken zu lesen und zu hören, sollte sich nicht erneut einmi­schen. Es ist bekannt, dass viele der tscha­di­schen Rebel­len­chefs in der Vergan­gen­heit zum Macht­zirkel Débys gehörten, einige sind mit ihm verwandt. Andere lebten, wie der Chef der FACT, Mahamat Mahdi, lange im Exil in Frank­reich. Genauso wie dem CMT fehlt ihnen die demo­kra­ti­sche Legi­ti­mie­rung. Nach Ansicht von großen Teilen der Zivil­ge­sell­schaft haben aber auch sie ein Anrecht, über die zukünf­tige Ordnung des Landes mitzu­dis­ku­tieren. Wakit Tama, ein breiter Zusam­men­schluss aus poli­ti­scher Oppo­si­tion, Gewerk­schaften und Zivil­ge­sell­schaft, sowie Posi­ti­ons­pa­piere weiterer Koali­tionen zivil­ge­sell­schaft­li­cher Akteur*innen fordern daher einen Waffen­still­stand und inklu­siven Dialog mit allen Gruppen über eine neue Verfassung.

Am 27. April 2021 gingen junge, aber auch ältere Menschen in allen Städten in großer Zahl auf die Straße. Frank­reich wurde die Einmi­schung in innert­scha­di­sche Ange­le­gen­heiten vorge­worfen und aufge­for­dert, dies sofort zu unter­lassen. „Frank­reich, hau ab!“ skan­dierten Sprech­chöre und war auf Spruch­bän­dern zu lesen. Tank­stellen fran­zö­si­scher Konzerne wurden zerstört, fran­zö­si­sche Flaggen in Brand gesetzt. Aber in erster Linie rich­teten sich die Proteste gegen den unkon­sti­tu­tio­nellen Macht­wechsel und damit gegen die Konti­nuität der Herr­schaft der bishe­rigen poli­ti­schen Elite und den mili­tä­ri­schen Über­gangsrat, in dem Zaghawa über­re­prä­sen­tiert sind – kurz gegen die „Dynas­ti­sie­rung“ der Macht. Auf die Proteste reagierte die neue Führung mit harter Hand. Über 700 Demons­tranten wurden verhaftet. Hatte die alte Regie­rung Déby „nur“ mit Wasser­wer­fern direkt in die Menge gezielt, wurde nun mit scharfer Muni­tion geschossen. Viele Menschen wurden schwer verletzt. Über die Zahl der Toten gibt es unter­schied­liche Aussagen von Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen und CMT. Zivil­ge­sell­schaft und poli­ti­schen Oppo­si­tion bezeich­neten sie als Märtyrer. Ihre Beer­di­gungen wurden erneut zu Großkundgebungen.

Dynas­ti­sie­rung der Macht

Macron änderte zwar nach dem brutalen Vorgehen gegen die Demonstrant*innen seinen Diskurs. Gemeinsam mit dem amtie­renden Präsi­denten der Afri­ka­ni­schen Union (AU), dem kongo­le­si­schen Präsi­denten Félix Tshise­kedi, mahnte er in Paris eine fried­liche, demo­kra­ti­sche und inklu­sive Tran­si­tion an. Aber die Tschader*innen glauben ihm nicht mehr. Auch eine Mission der AU in N’Djamena sprach sich für einen demo­kra­ti­schen Wandel aus, betonte aber gleich­zeitig die wich­tige Rolle des Tschad im Anti­ter­ror­kampf im Sahel. Die Afri­ka­ni­sche Union ist in einer Zwick­mühle: Zum einen müsste sie gemäß Artikel 23 ihrer Charta zu Demo­kratie, Wahlen und Regie­rungs­füh­rung wegen der Macht­über­nahme des CMT mit Sank­tionen reagieren. Zum anderen ist der Tschader Moussa Faki, ein enger Vertrauter der Familie Déby, Vorsit­zender der AU-Kommission. Er hat sich noch nicht öffent­lich geäußert.

Präsi­dent Déby Junior ernannte zwischen­zeit­lich, wohl auf leisen Druck Frank­reichs, einen zivilen Premier­mi­nister – aber ausge­rechnet Pahimi Padacké, den treuen Diener seines toten Vaters. Am 2. Mai 2021 stellte Pahimi seine Über­gangs­re­gie­rung vor: Mitglieder der Zivil­ge­sell­schaft sind nicht in ihren Reihen zu finden. Die meisten der 40 Minister*innen und Staats­se­kre­täre gehören zur bishe­rigen Regie­rungs­partei MPS, dessen Vorsit­zender der verstor­bene Déby war, und zu soge­nannten Satel­li­ten­par­teien aus dem Umfeld der MPS. Nur drei Minister kommen aus der Oppo­si­tion. Es ist davon auszu­gehen, dass mit ihrer Ernen­nung der Anschein der Inklu­si­vität erweckt und kriti­sche Nach­fragen aus dem Ausland verhin­dert werden sollten. Sie werden ohnehin im Minis­terrat einen schweren Stand gegen­über der Mehr­heit der vorma­ligen Regie­rungs­partei haben. Die meisten MPS-Granden hatten sich sofort nach der Macht­über­nahme des CMT als dessen Unter­stützer geoutet. Bislang liegt noch kein Fahr­plan für die Über­gangs­re­gie­rung vor. Kompe­tenzen und Gestal­tungs­mög­lich­keiten hat sie nicht, die liegen in der Hand des mili­tä­ri­schen Über­gangs­rats CMT und des neuen Präsi­denten; die Über­gangs­re­gie­rung der Mili­tär­füh­rung dient damit eigent­lich nur als ziviles Feigen­blatt. Anders als etwa in Mali scheint der CMT gewillt, sich auch nach der Über­gangs­phase an der Regie­rung zu betei­ligen. Für die Mitglieder der Über­gangs­re­gie­rung steht die Entschei­dung noch aus. Ange­sichts der derzei­tigen Mehr­heits­ver­hält­nisse ist aber jetzt schon absehbar, dass die bishe­rige Macht­elite sich auch in Zukunft ihren Zugang zu den Ressourcen des Staates sichern will. Damit würde die befürch­tete „Dynas­ti­sie­rung“ der Macht verfes­tigt. Weitere Konflikte sind vorge­zeichnet, denn die Zivil­ge­sell­schaft, die poli­ti­sche Oppo­si­tion und nicht zuletzt die Rebellen werden dies nicht hinnehmen. Die Jugend hat ohnehin nicht mehr viel zu verlieren. Friede wird im Tschad nicht einkehren und die bitter­arme Bevöl­ke­rung weiter leiden.

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Was nun?

Die west­li­chen Verbün­deten, allen voran Frank­reich, sollten sich einge­stehen, dass nicht erst der Tod Idriss Débys die Insta­bi­lität des Tschad verur­sacht hat, sondern dass ein korruptes, menschen­ver­ach­tendes und unde­mo­kra­ti­sches Regime, das alles andere als ein Anker der Stabi­lität war, wegen geopo­li­ti­scher Inter­essen über Jahr­zehnte inter­na­tional gestützt wurde. Doch im Moment scheint die Angst zu über­wiegen, dass der CMT die tscha­di­schen Einheiten, die im Übrigen wegen brutaler Über­griffe und Verge­wal­ti­gungen keinen guten Ruf haben, nicht weiterhin im Kampf gegen den isla­mis­ti­schen Terro­rismus einsetzt, und ohne sie die Stabi­lität im Sahel gefährdet sei. Dabei wurde doch schon länger deut­lich, dass der Sahel mit dem Militär allein nicht befriedet werden kann. Und wer behauptet, dass nicht auch eine Zivil­re­gie­rung weiterhin Truppen entsendet? Es könnte sich durchaus auszahlen, auf die Forde­rung von Oppo­si­tion und Zivil­ge­sell­schaft nach Inklu­si­vität und Demo­kratie einzu­gehen. Ein Dialog und hoffent­lich demo­kra­ti­scher Neuan­fang unter Einbe­zie­hung aller gesell­schaft­li­chen Kräfte würde für den Tschad und seine Verbün­deten lang­fristig nicht nur die menschen­wür­di­gere, sondern auch kosten­güns­ti­gere Stra­tegie bedeuten.