Der zentralafrikanische Tschad hat seit seiner Unabhängigkeit 1960 noch keinen friedlichen Machtwechsel erlebt. Sein erster Präsident, Ngarta Tombalbaye, wurde 1975 nach diversen Aufständen gegen seine Herrschaft von Soldaten erschossen. Anschließend lösten sich Bürgerkriege und bewaffnete Umstürze tschadischer Rebellen ab, die immer wieder aus dem benachbarten Sudan in Richtung der Hauptstadt N’Djamena vorrückten. So kam – geduldet von der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich – 1990 auch Idriss Déby Itno an der Spitze des Movement Patriotique du Salut (MPS) an die Macht. Er gehörte zur ethnischen Gruppe der Zaghawa, die ca. 3 % der Bevölkerung stellen (es leben ca. 200 ethnische Gruppen im Tschad). Déby ließ die Macht nicht mehr los, bis er sich getreu der Tradition der Zaghawa als oberster Befehlshaber zu den Truppen begab und Mitte April 2021 überraschend – und nach offiziellen Angaben – bei einem Rebellenangriff getötet wurde, einen Tag nur nach der vorgezogenen Verkündung seines Wahlsiegs, der ihm sein sechstes Präsidentschaftsmandat ermöglichen sollte. Nach dem Tod des langjährigen Präsidenten hatten Opposition, Zivilgesellschaft und vor allem viele junge Tschader*innen auf einen politischen Neuanfang und auf Gespräche am runden Tisch mit allen politischen Kräften im In- und Ausland zu hoffen gewagt. Auch die Rebellen sollten eingeschlossen werden. Doch statt eines politischen Neuanfangs zeichnet sich eine weitere „Dynastisierung“ der alten Machtelite ab – mit europäischer Unterstützung.
Machtübernahme
Gleichzeitig mit der überraschenden Todesnachricht ihres Präsidenten im staatlichen Fernsehen erfuhren die Tschader*innen von der Machtübernahme des militärischen Übergangsrats, des Conseil militaire de transition (CMT), unter der Leitung von General Mahamat Idriss Déby, einem der Söhne des getöteten Präsidenten. Der Sprecher des CMT verkündigte, dass die Verfassung außer Kraft gesetzt, Minister*innen ihres Amtes enthoben sowie das Parlament aufgelöst worden seien. General Déby, bisheriger Kopf der Elitetruppen, erprobt, ruchlos im Kampf und Chef der Präsidialgarde, ist nun der neue starke Mann im Staat. Eine Übergangsverfassung sichert ihm mehr Rechte als seinem Vater zu. Vergeblich wurde schon während der 30-jährigen autoritären Herrschaft Déby Seniors ein inklusiver Dialog angemahnt, um zu einer demokratischen Neuordnung und einer gerechteren Verteilung der Ressourcen des Landes zu gelangen. Déby hatte jedoch eisern an seiner absoluten Macht festgehalten. Die neue Verfassung der sogenannten Vierten Republik von 2018 hätte ihm sogar die Möglichkeit zwei weiterer Amtszeiten bis 2033 gegeben. Die Übergangsverfassung, die den Sohn begünstigt, soll 18 Monate gelten, kann einmal verlängert werden und in einen Wahlprozess münden. Die außer Kraft gesetzte Verfassung hatte eine Übergangsregelung in der Person des Parlamentspräsidenten und Ausschreibung von Neuwahlen innerhalb von drei Monaten vorgesehen. Doch das ist nun alles Makulatur.
Während des Wahlkampfs im Vorfeld der diesjährigen Präsidentschaftswahlen waren die demokratische Opposition und Zivilgesellschaft zunehmend diskreditiert und staatlichen Repressionen ausgesetzt worden. Beim Versuch, den Oppositionskandidaten Yaya Dillo zu verhaften, der wie Déby zur ethnischen Gruppe der Zaghawa gehört, wurden die Mutter und ein Sohn Dillos erschossen. Als Reaktion auf diese Gewalttat hatten politische Schwergewichte wie Saleh Kebzabo und andere langjährige Oppositionspolitiker schlussendlich ihren Boykott der Präsidentschaftswahlen erklärt. Pahimi Padacké hingegen blieb Kandidat und errang 10,3% der Stimmen. Er war bis zur Abschaffung des Amts 2018 Premierminister unter Déby gewesen und galt nicht wirklich als sein erklärter politischer Gegner. Vielmehr wahrte das Regime Déby mit seiner Teilnahme den Anschein eines demokratischen Wettbewerbs und eine demokratische Fassade. Beides war für die internationale Anerkennung Débys wichtig – insbesondere für den militärischen Bündnispartner Frankreich.
Französische Komplizenschaft
Schließlich hatten sich Déby und Teile der tschadischen Armee seit 2013 als unerlässlicher und schlagkräftiger Partner Frankreichs im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus im Sahel profiliert. Seite an Seite kämpften tschadische und französische Einheiten gegen das Vorrücken von Al-Qaida im Norden Malis. Inzwischen stellt das tschadische Militär die drittgrößte Einheit in der UN-Friedensmission MINUSMA (nach Bangladesch und Ägypten) und die größte in der Eingreiftruppe der G5 Sahelstaaten. Erst im März 2021 hatte der Tschad ein Bataillon von 1.200 Militärs in das Dreiländereck Burkina Faso – Mali – Niger entsandt. Das Hauptquartier von Barkhane, der französischen Mission zur Bekämpfung des islamistischen Terrorismus, befindet sich in N’Djamena. Und nicht zuletzt unterhält die ehemalige Kolonialmacht Frankreich seit den 1970er Jahren permanente Militärbasen in N’Djamena, Abéché und Faya. Seit dem Verlust der Basis in der Zentralafrikanischen Republik können nur von hier aus die ehemaligen französischen Kolonien schnell angeflogen werden. Zusätzlich bieten die Weiten des Tschad der französischen Luftwaffe großartige Übungsplätze. Ob all dies Emmanuel Macron dazu bewogen hat, an den Trauerfeierlichkeiten für Präsident Déby in N’Djamena teilzunehmen und so einen demokratischen Übergang zu erschweren? Immerhin zerstoben mit der Anwesenheit des französischen Präsidenten, seines Außenministers Le Drian sowie der des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell alle Hoffnungen der tschadischen Zivilbevölkerung auf einen politischen Dialog: In seiner Ansprache betrauerte Macron nicht nur den Verlust eines guten Freundes und zuverlässigen Kampfgefährten Frankreichs. Er stellte der neuen Führung des Tschad zudem einen Freibrief aus, indem er ihr französische Unterstützung und die Integrität des Landes zusagte.
Antifranzösische Aktionen in N’Djamena und anderen Städten ließen daraufhin nicht auf sich warten. Zu frisch waren noch die Erinnerungen an 2019, 2008 und 2006, als vorrückende tschadische Rebellen nur mit französischer Unterstützung abgewehrt werden konnten. 2019 benutzte Frankreich dazu Flugzeuge der eigenen Operation Barkhane, was nicht zum Mandat von Barkhane gehört und zu einer Anfrage im französischen Parlament führte. Débys Machterhalt wurde so jeweils gesichert, ein Dialog fand nicht statt, jede Hoffnung auf politischen Wechsel wurde erstickt. Wird sich die Geschichte nun wiederholen?
Mit harter Hand gegen Protestierende
Seit dem Tod Débys kämpfen immer noch Einheiten der Rebellengruppe „Front für Eintracht und Wechsel im Tschad“ (Front pour l’alternance et la concorde au Tchad – FACT) auf tschadischem Terrain oder halten sich in den Grenzregionen des benachbarten Niger auf. Die FACT hatte am 11. April, dem Datum der Präsidentschaftswahlen, ihren Angriff aus Libyen in Richtung N’Djamena gestartet war weit ins Landesinnere vorgerückt. Der Übergangsrat CMT hat jegliche Verhandlungen mit den „Terroristen“, wie er die FACT bezeichnet, kategorisch abgelehnt. Die Kämpfe gehen weiter. Französische Aufklärungsflugzeuge geben offensichtlich Positionen der FACT an die tschadische Armee durch. Frankreich, so ist von kritischen Stimmen in sozialen Netzwerken zu lesen und zu hören, sollte sich nicht erneut einmischen. Es ist bekannt, dass viele der tschadischen Rebellenchefs in der Vergangenheit zum Machtzirkel Débys gehörten, einige sind mit ihm verwandt. Andere lebten, wie der Chef der FACT, Mahamat Mahdi, lange im Exil in Frankreich. Genauso wie dem CMT fehlt ihnen die demokratische Legitimierung. Nach Ansicht von großen Teilen der Zivilgesellschaft haben aber auch sie ein Anrecht, über die zukünftige Ordnung des Landes mitzudiskutieren. Wakit Tama, ein breiter Zusammenschluss aus politischer Opposition, Gewerkschaften und Zivilgesellschaft, sowie Positionspapiere weiterer Koalitionen zivilgesellschaftlicher Akteur*innen fordern daher einen Waffenstillstand und inklusiven Dialog mit allen Gruppen über eine neue Verfassung.
Am 27. April 2021 gingen junge, aber auch ältere Menschen in allen Städten in großer Zahl auf die Straße. Frankreich wurde die Einmischung in innertschadische Angelegenheiten vorgeworfen und aufgefordert, dies sofort zu unterlassen. „Frankreich, hau ab!“ skandierten Sprechchöre und war auf Spruchbändern zu lesen. Tankstellen französischer Konzerne wurden zerstört, französische Flaggen in Brand gesetzt. Aber in erster Linie richteten sich die Proteste gegen den unkonstitutionellen Machtwechsel und damit gegen die Kontinuität der Herrschaft der bisherigen politischen Elite und den militärischen Übergangsrat, in dem Zaghawa überrepräsentiert sind – kurz gegen die „Dynastisierung“ der Macht. Auf die Proteste reagierte die neue Führung mit harter Hand. Über 700 Demonstranten wurden verhaftet. Hatte die alte Regierung Déby „nur“ mit Wasserwerfern direkt in die Menge gezielt, wurde nun mit scharfer Munition geschossen. Viele Menschen wurden schwer verletzt. Über die Zahl der Toten gibt es unterschiedliche Aussagen von Menschenrechtsorganisationen und CMT. Zivilgesellschaft und politischen Opposition bezeichneten sie als Märtyrer. Ihre Beerdigungen wurden erneut zu Großkundgebungen.
Dynastisierung der Macht
Macron änderte zwar nach dem brutalen Vorgehen gegen die Demonstrant*innen seinen Diskurs. Gemeinsam mit dem amtierenden Präsidenten der Afrikanischen Union (AU), dem kongolesischen Präsidenten Félix Tshisekedi, mahnte er in Paris eine friedliche, demokratische und inklusive Transition an. Aber die Tschader*innen glauben ihm nicht mehr. Auch eine Mission der AU in N’Djamena sprach sich für einen demokratischen Wandel aus, betonte aber gleichzeitig die wichtige Rolle des Tschad im Antiterrorkampf im Sahel. Die Afrikanische Union ist in einer Zwickmühle: Zum einen müsste sie gemäß Artikel 23 ihrer Charta zu Demokratie, Wahlen und Regierungsführung wegen der Machtübernahme des CMT mit Sanktionen reagieren. Zum anderen ist der Tschader Moussa Faki, ein enger Vertrauter der Familie Déby, Vorsitzender der AU-Kommission. Er hat sich noch nicht öffentlich geäußert.
Präsident Déby Junior ernannte zwischenzeitlich, wohl auf leisen Druck Frankreichs, einen zivilen Premierminister – aber ausgerechnet Pahimi Padacké, den treuen Diener seines toten Vaters. Am 2. Mai 2021 stellte Pahimi seine Übergangsregierung vor: Mitglieder der Zivilgesellschaft sind nicht in ihren Reihen zu finden. Die meisten der 40 Minister*innen und Staatssekretäre gehören zur bisherigen Regierungspartei MPS, dessen Vorsitzender der verstorbene Déby war, und zu sogenannten Satellitenparteien aus dem Umfeld der MPS. Nur drei Minister kommen aus der Opposition. Es ist davon auszugehen, dass mit ihrer Ernennung der Anschein der Inklusivität erweckt und kritische Nachfragen aus dem Ausland verhindert werden sollten. Sie werden ohnehin im Ministerrat einen schweren Stand gegenüber der Mehrheit der vormaligen Regierungspartei haben. Die meisten MPS-Granden hatten sich sofort nach der Machtübernahme des CMT als dessen Unterstützer geoutet. Bislang liegt noch kein Fahrplan für die Übergangsregierung vor. Kompetenzen und Gestaltungsmöglichkeiten hat sie nicht, die liegen in der Hand des militärischen Übergangsrats CMT und des neuen Präsidenten; die Übergangsregierung der Militärführung dient damit eigentlich nur als ziviles Feigenblatt. Anders als etwa in Mali scheint der CMT gewillt, sich auch nach der Übergangsphase an der Regierung zu beteiligen. Für die Mitglieder der Übergangsregierung steht die Entscheidung noch aus. Angesichts der derzeitigen Mehrheitsverhältnisse ist aber jetzt schon absehbar, dass die bisherige Machtelite sich auch in Zukunft ihren Zugang zu den Ressourcen des Staates sichern will. Damit würde die befürchtete „Dynastisierung“ der Macht verfestigt. Weitere Konflikte sind vorgezeichnet, denn die Zivilgesellschaft, die politische Opposition und nicht zuletzt die Rebellen werden dies nicht hinnehmen. Die Jugend hat ohnehin nicht mehr viel zu verlieren. Friede wird im Tschad nicht einkehren und die bitterarme Bevölkerung weiter leiden.
Was nun?
Die westlichen Verbündeten, allen voran Frankreich, sollten sich eingestehen, dass nicht erst der Tod Idriss Débys die Instabilität des Tschad verursacht hat, sondern dass ein korruptes, menschenverachtendes und undemokratisches Regime, das alles andere als ein Anker der Stabilität war, wegen geopolitischer Interessen über Jahrzehnte international gestützt wurde. Doch im Moment scheint die Angst zu überwiegen, dass der CMT die tschadischen Einheiten, die im Übrigen wegen brutaler Übergriffe und Vergewaltigungen keinen guten Ruf haben, nicht weiterhin im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus einsetzt, und ohne sie die Stabilität im Sahel gefährdet sei. Dabei wurde doch schon länger deutlich, dass der Sahel mit dem Militär allein nicht befriedet werden kann. Und wer behauptet, dass nicht auch eine Zivilregierung weiterhin Truppen entsendet? Es könnte sich durchaus auszahlen, auf die Forderung von Opposition und Zivilgesellschaft nach Inklusivität und Demokratie einzugehen. Ein Dialog und hoffentlich demokratischer Neuanfang unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen Kräfte würde für den Tschad und seine Verbündeten langfristig nicht nur die menschenwürdigere, sondern auch kostengünstigere Strategie bedeuten.