Dr. jur. Christoph Blocher, studierter Jurist und Volkstribun, Ex-Unternehmer* und Alt-Bundesrat, schlägt gegenwärtig eine seiner letzten Schlachten. Was lange Zeit wie ein leichter Sieg für seinen Mannen und Frauen aussah, wurde unversehens zu einem verzweifelten Verteidigungskampf um eine Vorlage, von der es schwerfällt zu glauben, dass zumindest die klügeren Leute in seiner Partei nicht haargenau wüssten, was für ein juristisch und politisch gefährliches Kuckucksei sie mit der DSI den StimmbürgerInnen untergeschoben haben. Dazu ist schon alles gesagt worden, und es ist mittlerweile wahrscheinlich, dass die SVP nächsten Sonntag ihr wohlverdientes Domodossola bzw. Marignano erlebt.

Christoph Blocher; Quelle: aargauerzeitung.ch
Eine Erklärung für die sich abzeichnende Niederlage hat Blocher schon vorab geliefert: „Alle sind gegen die Mehrheit des Volkes.“ Zunächst erinnert dies zwar an den verwirrenden Charme eines Escherschen Rätselbildes mit Treppen, die an ihrem Anfang enden, Türmen, die zugleich vor und hinter der Mauer stehen, oder Flüssen, die ihre eigenen Nebenflüsse sind: „Alle“ sind gegen „die Mehrheit“… Doch Christoph Blocher will nicht charmant sein. Vielmehr vertieft er mit seinem rhetorischen Zweihänder bewusst die Spaltung, die er seit fünfundzwanzig Jahren konstruiert.
Das scheinbare Paradox seiner Behauptung löst sich nur auf, wenn man in diesem Satz nicht den quantitativen Widersinn, sondern den qualitativen Unterschied zwischen „alle“ und „Mehrheit des Volkes“ herausstellt, den Blocher dabei evoziert. „Alle“, das sind offensichtlich die „classe politique“ und die diversen „Eliten“ (zusammen „die“ Elite); die „Mehrheit“ hingegen ist das „Schweizervolk“, welches er und seine SVP exklusiv zu repräsentieren vorgeben. Die „Mehrheit des Volkes“ ist demnach keine rechnerische Angelegenheit, sondern eine Frage der richtigen Gesinnung, des wahren Glaubens und der gesicherten, traditionsgestützten und die Migration der Vorfahren verdrängenden Herkunft. „Alle“ (andern) fallen angeblich als „Geisteswissenschaftler“, „Richter“, „Bundesräte“ und ähnliche „Diktatoren“ – so Dr. Blochers O-Ton –, aus dem Rahmen dieser ‚wahren’ Mehrheit des „Volkes“, ja erscheinen als jene, die systematisch „gegen die Schweiz“, „gegen das Volk“ und „für die EU“ arbeiten. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich, und wer gegen mich ist, ist gegen die Schweiz und für den EU-Beitritt.
Diese verquere, dabei so simple und gut geölte ideologische Sprechweise ist an sich leicht zu durchschauen. Die Frage ist allerdings, warum sie so gut funktioniert. Um das zu verstehen, muss man an einen gekonnten propagandistischen Kniff erinnern: Als einer der damals dienstältesten Bundesparlamentarier, forscher Unternehmer und Neo-Milliardär hatte Christoph Blocher Anfang der 90er Jahre durchaus instinktsicher das Politik und Wirtschaft beherrschende FDP-Kaderkartell als eine vom „Volk“ abgehobene „Elite“ angegriffen (nicht ohne jenen Kern von Wahrheit, auf den keine Ideologie verzichten kann). Vor allem aber hatte er die Chuzpe, deren politischen Flügel als „classe politique“ zu denunzieren, zu der Blocher sich gleichsam als die Alternative reinsten Bergquellwassers präsentierte.
Allerdings ist die Behauptung von einem angeblich tiefen Graben zwischen „Volk“ und „Elite“ hierzulande ein wahrhaftes Paradox: Die nationale Rechte lobt zwar ebenso permanent wie penetrant unsere „weltweit einzigartige Demokratie“, in der das „Volk“ regiere und eben nicht, wie überall sonst, eine „Elite“. Aber sie verliert bei ihrem Gezischel von der „Elite“ kein Wort darüber, dass das politische System der Schweiz konsequent föderalistisch organisiert ist; dass Zehntausende von BürgerInnen in Parteien aller Couleur engagiert sind; dass über das Initiativ- und Referendumsrecht die Parlamente aller Ebenen permanent dem buchstäblichen Druck von ‚unten’ ausgesetzt sind – und dass der Bundesrat, dieser Siebnerauschuss des Parlaments und amtierender Bundesverwaltungsvorstand, nicht mal einen Chef kennt und nur mit gutem Willen eine „Regierung“ genannt werden kann.
Wie also kann es sein, dass ausgerechnet in einem solchen politischen System sich in vielen Köpfen die komplett verdrehte, verquere, ausschließlich demagogische und ideologische Vorstellung vom Gegensatz zwischen „Volk“ und „Elite“ einnisten konnte? Grund dafür war nicht nur das propagandistisch meisterhafte Schlagwort von der „classe politique“, sondern auch die gefährlich-verführerische Attraktivität der Rede vom „Volk“. Wer konsequent und über zwei Jahrzehnte den Volks-Begriff besetzt und sich als einziger legitimer Vertreter des „Volkes“ inszeniert, setzt seine politischen Gegner unter Zugzwang, wenn nicht latent ins Unrecht: Wer wollte denn in einer Demokratie nicht auch das „Volk“ repräsentieren?
Aber Blochers (wie auch Köppels und anderer) Umgang mit dem Begriff „Volk“ ist mehrdeutiger, doppelbödiger, beschränkt sich nicht auf ein modernes politisches Verständnis von „Volk“ als „Staatsvolk“ im völkerrechtlichen und demokratietheoretischen Sinn. Vielmehr konstruieren sie einen nationalkonservativen Mythos des „Volkes“ als eine in der ebenso mythischen Ursprungsgeschichte der Schweiz verankerten Substanz, aus der heraus sich auch in der modernen Demokratie alle Macht ableite und vor der sich alle Macht zu rechtfertigen habe. Das „Volk“ repräsentiert, nein, ist in diesem Sinne Ursprung, die „Elite“ und „alle“ (anderen) hingegen sind nur das schlecht legitimierte Derivat moderner Politik und Rechtsformen, für die der politische Mystiker aus Herrliberg bloss Verachtung übrig hat.
Es wird daher Zeit, die vielen BürgerInnen, die sich jetzt zum Beispiel aus ganz unterschiedlichen politischen Perspektiven gegen die Durchsetzungsinitiative engagieren, im politisch-medialen Sprechraum der Schweiz endlich als das zu repräsentieren, was sie sind: als eine liberale, aufgeklärte, fortschrittliche, für den Rechtsstaat und eine offene Gesellschaft engagierte Öffentlichkeit, das heißt als jene „alle“, die immer noch die Mehrheit der (stimmberechtigten) Bevölkerung ausmachen. In diesem Sinne wären wir alle gut beraten, die Rede von der „classe politique“, der „Elite“ und dem „Volk“ endlich aus unseren mentalen Textbausteinspeichern zu löschen. Es reicht jetzt.
*) Nachtrag: Dr. Blocher ist zwar nicht mehr an der Ems-Chemie beteiligt (und insofern „Ex-Unternehmer“), jedoch über die Firma Robinvest AG im Medienbereich weiterhin unternehmerisch tätig.