«Die Scharia kommt Schritt für Schritt. Aber ich, als Staatsbürger, protestiere gegen diejenigen, die mein Land in das dunkle Mittelalter zurückführen wollen. Zusammen mit meiner Ehegattin bin ich hier mit einer Weinflasche und Weingläser in der Hand.» So protestierte der Journalist Deniz Som im November 2006 trinkend gegen das Alkoholverbot für öffentliche Plätze, welches die Küstenstadt Üsküdar in der Provinz Istanbul beschlossen hatte. Die Stadtverwaltung stand der islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung AKP nahe, der Partei von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Deniz Som war Teil einer Gruppe von etwa 300 Leuten, die mit dem Slogan «Die Türkei ist laizistisch, und bleibt laizistisch» ihren Protest gegen das Alkoholverbot kundtaten. Der Alkohol ist hier inmitten der Grabenkämpfe zwischen laizistischen und islamistischen Kräften zum Politikum geworden – und war es schon bei der Gründung der Türkei.
Die Erfindung des Alkoholproblems

Ein Werbeplakat aus den 1910er Jahren für die Weinmarke Kouvet Sarabi
Ironie der Geschichte: Während sich konservative und islamistische Kreise in der Türkei mit Forderungen eines Alkoholverbotes auf eine islamische Tradition berufen, stammt die Forderung eines staatlichen Alkoholverbotes eigentlich aus dem Ideenkatalog der westlichen Moderne. In der osmanischen Gesellschaft war das Trinken nämlich verbreitet. Davon zeugt die Tradition der «meyhanes» genannten Trinklokale, eine vom Byzantinischen Reich vererbte Tradition, die im Osmanischen Reich weiterlebte. Im 19. Jahrhundert nahm die Zahl der «meyhanes» in Istanbul derart zu, dass muslimische Autoritäten sich daran zu stören begannen. Der Staat unter Sultan Abdulhamid II. erhöhte die Abgaben auf den Alkoholhandel, um einerseits Profit aus der zunehmenden Trinkkultur zu schlagen, und andererseits, um den Protesten religiöser Kreise entgegenzukommen.
Bis zum frühen 20. Jahrhundert beschäftigte das «Alkoholproblem» die osmanische Öffentlichkeit jedoch kaum, ganz im Gegensatz zu Europa und den USA, wo Alkohol in jener Zeit als Grundübel aller sozialen Probleme hingestellt wurde. Mit dem Erstarken der internationalen Antialkoholbewegung begannen auch in der osmanischen Öffentlichkeit Diskussionen um die Schädlichkeit des Alkohols. Das «Alkoholproblem» wurde sozusagen erst kreiert. Vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs tauchten erste Vereine mit alkoholgegnerischen Aktivitäten auf. 1919 formulierte das Innenministerium zum ersten Mal konkrete Regeln darüber, in welchen öffentlichen Räumen das Trinken nicht erlaubt sei und legte Schliesszeiten von Clubs und «meyhanes» fest. Zugleich brandmarkten religiöse Autoritäten das Trinken zunehmend als Provokation durch die christliche Bevölkerung, die in der Zeit des Ersten Weltkrieges unter Verdacht stand, mit den Entente-Mächten gegen den osmanischen Staat zu kollaborieren.
Als sich die erste Grosse Nationalversammlung im April 1920 in Ankara unter der Führung von Mustafa Kemal (Atatürk) in einem provisorisch eingerichteten Gebäude traf, gab es zwar noch keine parteipolitischen Differenzen: Alle Mitglieder der Nationalversammlung einte der Wunsch nach einer unabhängigen Türkei. Denn die Siegermächte im Ersten Weltkrieg, allen voran Frankreich und Grossbritannien, hatten eben Teile des zerfallenen Osmanischen Reiches unter sich aufgeteilt und besetzt, und eine aufstrebende türkische Nationalbewegung wehrte sich gegen die Besetzung. Doch eine scheinbar nebensächliche Frage löste an jenem Tag in Ankara eine heftige Debatte aus, welche die junge türkische Nationalversammlung vor eine Zerreissprobe stellte: die Alkoholfrage.
Die USA als Vorbild
Ali Şükrü Bey, ein 36-jähriger Politiker aus Trabzon, drängte die Versammlung zu einem Gesetz für das Verbot von Alkohol. Ein solches hatte es im Osmanischen Reich trotz der islamischen Doktrin vom Alkoholverzicht nicht gegeben. Lediglich der Alkoholhandel war verboten, und Nichtmuslime waren von diesem Verbot ausgenommen. Der Alkoholkonsum dagegen wurde vom osmanischen Staat nie sanktioniert. Ali Şükrü und Gleichgesinnte waren von westlichen Ländern und Russland inspiriert: Wenn die USA, Australien, und «die Bolschewiken» Alkohol verbieten würden, argumentierte Ali Şükrü, so würde dies die Nationalversammlung, deren Prinzipien für die Gesetzgebung ohnehin auf dem Islam beruhten, gewiss ebenso tun.*
Er schlug ein Gesetz zum totalen Verbot von Alkoholhandel im gesamten Land vor, und zwar nach US-amerikanischem Vorbild. «Der Grund, warum ich diesen Gesetzentwurf überreiche, ist die Rettung unserer Generation von dieser entsetzlichen Plage», erklärte Ali Şükrü und meinte damit den Alkoholkonsum. Mit einem solchen Gesetz werde die Türkei sowohl den Respekt der Europäer und der Amerikaner gewinnen als auch ihre Stellung in der islamischen Welt stärken.
Ali Şükrü folgte der religiös-nationalistischen Argumentation vieler Zeitgenossen: Die Christen, die sich mit den Entente-Mächten verbündet hätten, profitierten vom Alkoholrausch der muslimischen Männer, vor allem von denjenigen an der Front: «In unserem Land werden 120 Millionen Liter Wein konsumiert, 120 Millionen Liter, die Geld in die Taschen der Griechen und Armenier bringen», empörte sich Şükrü anlässlich der heftigen Proteste seitens der Gegner seines Gesetzesentwurfes, wo er sich auch darüber ereiferte, dass sich der Alkoholkonsum im Land angeblich verdoppelt habe. Millionen von Lira gingen in die Taschen von Christen, klagte er, «die uns offensichtlich als Feinde sehen, und dies auf Kosten von vielen Menschen, die entwürdigt werden.»
Die Initiative von Ali Şükrü läutete eine kurze – und wenig erfolgreiche – prohibitionistische Ära in der Türkei ein. Das Alkoholverbotsgesetz wurde mit knapper Mehrheit angenommen und trat im Februar 1921 in Kraft. Doch mit der Umsetzung haperte es. Die Türkei hatte noch keine vollständige Souveränität erreicht; die Republik sollte erst 1923 ausgerufen werden. Die Nationalversammlung war eben von Istanbul nach Ankara umgezogen. Istanbul, immer noch das Zentrum der Verwaltung und Administration, war von den Triple-Entente-Mächten besetzt. Regierungsmitglieder und Beamte im Polizeikorps konsumierten weiterhin Alkohol und produzierten ihn gar selbst. Nicht einmal der Staatschef Atatürk hielt sich an das Verbot.
Der leidenschaftlichste Befürworter der Prohibition, Ali Şükrü, wurde derweil 1923 unter ungeklärten Umständen ermordet. Damit verlor die Alkoholverbotsdebatte ihren Vorkämpfer. 1924 wurde das Alkoholverbot durch eine Regulierung mit Lizenzvorgaben und Versteuerungen ersetzt. Zwei Jahre später hob die Regierung das Alkoholgesetz ganz auf und führte ein staatliches Monopol ein
Alkohol und Identität

Vortrag von 1905, Publikation ca. 1907; Quelle: dnb.de
So wie eugenische und rassenhygienische Konzepte die Antialkoholbewegung in Europa prägten, waren diese auch prominent bei den Medizinern und Psychiatern vertreten (um diese Zeit ausschliesslich Männer), die in der Türkei dem Alkohol ihren Kampf ansagten. Der Schweizer Eugeniker Auguste Forel (1848-1931) wurde zur Referenzfigur mit seinen Schriften für den Kampf gegen Alkohol. So bezeichnet Mazhar Osman, Psychiater und Mitgründer der alkoholgegnerischen Organisation Yeşilay (Green Crescent) in seinen Memoiren Auguste Forel als den Meister der alkoholgegnerischen Propaganda. Er habe viel von «Vater» Forel gelernt und bewundere dessen simple Art, über medizinische Details einem Laienpublikum zu berichten.
Die Debatten über das Alkoholverbotsgesetz in der frühen Türkei waren somit stark von westlichen Ideen geprägt. Sie widerspiegeln zugleich die krisenhafte Übergangsphase vom Osmanischen Kalifat hin zur Republik Türkei, in der es um die Frage ging, wie man sich in einer von westlichen Konzepten dominierten Weltordnung moderner Nationalstaaten einordnen sollte: Es ging um die Verteidigung der Nation und der auf Anatolien reduzierten Landesgrenzen. Für viele bedeutete dies auch eine Verteidigung von Islam und muslimischen Werten. Parallel dazu formierte sich eine säkularistisch orientierte politische Gruppe um Atatürk, welche Reformen nach einem europäischen Modell postulierte und sich schliesslich durchsetzen sollte. Mit dem Alkoholkonsum wollte man die eigene Modernität zur Schau stellen. Das Trinken wurde zu einem Symbol der Abgrenzung von der «veralteten osmanischen» Kultur und einer Identifikation mit der «neuen, progressiv-revolutionären» Ideologie. Erst die 1990er-Jahre sollten mit dem Aufkommen religiös-konservativer Strömungen eine Wende einleiten, wobei der heutige türkische Präsident Erdogan eine prägende Rolle spielen sollte.
Nach dem Tod von Ali Şükrü und dem Ende des kurzen Experimentes mit der Prohibition verschwand das Alkoholthema jedoch während Jahrzehnten aus der türkischen Öffentlichkeit. Nur die parastaatliche Organisation Yeşilay (Green Crescent) befasste sich mit Alkohol als Suchtthematik. Ihre alkoholgegnerischen Publikationen bezogen sich auf ein als genuin «türkisch und islamisch» verstandenes Wertesystem. Zugleich verwiesen sie auf Publikationen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die wissenschaftlichen Studien der WHO sind der Referenzpunkt für Yeşilay, um die Universalität islamischer Prinzipien zu beweisen.
Liberalisierung und Aufstieg einer konservativen Mittelschicht
Erst in den 1980er Jahren tat sich allmählich erneut jener Graben zwischen Alkoholbefürwortern und -gegnern auf, der einst die junge türkische Nationalversammlung spaltete. Eine neue muslimisch-konservative Mittelschicht sorgte für eine steigende Nachfrage nach alkoholfreien Freizeiträumen. Diese Mittelschicht verdankt ihren Aufstieg den Wirtschaftsreformen in der Türkei, die 1983 begonnen haben und schrittweise das existierende staatlich-dominierte Wirtschaftsmodell durch ein liberal-marktwirtschaftliches System ersetzt haben. Im Zuge der wirtschaftlichen Liberalisierung nehmen vermehrt auch muslimisch-konservative Geschäftsleute, die seit der Gründung der Republik Türkei politisch und wirtschaftlich marginalisiert waren, an einer globalisierten Marktwirtschaft teil. Mit ihrem wirtschaftlichen Aufstieg haben sich neue Formen von Konsum und Freizeitvergnügen verbreitet, die sich an islamischen Enthaltsamkeitsprinzipien orientieren.
Parallel dazu sind die religiös orientierten politischen Parteien erstarkt. Die 1983 gegründete Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) wurde 1996/97 erstmals Regierungspartei. Zu ihren Mitgliedern zählte unter anderem ein gewisser Recep Tayyip Erdogan. Die Partei bemühte sich um die Einführung einer Alkoholsteuer – bemerkenswerterweise im Rahmen von Reformen für eine Aufnahme in die Europäische Währungsunion. Die Alkoholregulierung wurde wieder – wie schon 1920 – von religiös orientierten Politikern eingefordert und wieder mit Referenzen zum Westen, in diesem Fall EU-Standards. Die Einführung einer Alkoholsteuer scheiterte aufgrund mehrmaliger Regierungswechsel. Erst 2002 setzte die Regierung die Einführung einer Alkoholsteuer durch. Federführend war der damalige Regierungschef Erdogan, Präsident der AKP, einer Nachfolgepartei der Wohlfahrtspartei. Die Einführung der Alkoholsteuer blieb weiterhin Teil eines Reformpaketes im Rahmen des türkischen EU-Mitgliedschaftsantrags.

Titelseite der Zeitung „Dirilis Postasi“, 27. März 2016. Der Titel über dem Porträt von Ali Sükrü lautet: „Wir erinnern uns auch an die Mörder von Ali Sükrü.“
Religiöse Kreise machten unterdessen Ali Şükrü Bey zu einer Ikone im Kampf gegen den Alkohol. Politiker forderten eine Untersuchung des Mordes an Şükrü, hinter dem sie politische Motive witterten. Die Biographie des Alkoholgegners erhielt neue Aufmerksamkeit. Mehrere Publikationen über sein Leben, seine Alkoholverbotsinitiative und seine Ermordung sind seither erschienen. Zeitungsartikel kolportierten die These von einem politischen Mord und werteten Şükrüs Kampf gegen den Alkohol als Heldentat. Im 21. Jahrhundert ist Şükrü in religiös-konservativen Publikationen ein nicht mehr wegzudenkender «Märtyrer» im Kampf gegen den «heidnischen» Alkoholkonsum geworden. Es gibt aber auch Gegenstimmen, die ihn als religiösen Fanatiker bezeichnen.
Erdogan vs. Atatürk
Mit dem Aufstieg der AKP zur Regierungspartei haben die Einschränkungen zugenommen. AKP-nahe Stadtverwaltungen ordneten die Schliessung von Bars und Clubs an, die Alkohol ausschenken. In vielen Küstenstädten wurde der Alkoholverkauf verboten. Dies löste erste Proteste aus. Man warf der Regierung vor, schrittweise die Scharia einzuführen. Im Mai 2013 führte die Regierung Erdogan ein neues Gesetz ein, das landesweit den Alkoholverkauf von 22:00 bis 06:00 verbietet. Die Regierung nahm erneut Bezug auf Europa, wo mehrere Staaten eine Beschränkung des Alkoholverkaufs eingeführt hatten, sowie auf Standards, welche die WHO vorschlägt.
Als das neue Alkoholgesetz eingeführt wurde, gab es in vielen Landesteilen Proteste. Sie verschmolzen mit Demonstrationen gegen die Regierung, die sich an einem Bauvorhaben im Gezi-Park in Istanbul entzündet hatten. Während der Demonstrationen, die zeitlich mit dem muslimischen Fastenmonat Ramadan zusammenfielen, tranken Teilnehmende Alkohol. Für die einen war das selbstverständlich, für die anderen ein demonstratives Symbol des Protestes. Staatsnahe Medien wiederum veröffentlichten Bilder von Protestierenden mit Bierflaschen in den Händen und stellten diese als Provokation und Verletzung der religiösen Gefühle der fastenden türkischen Nation dar.
Kurz vor der Einführung des Alkoholgesetzes fand in Istanbul ein «Global Alcohol Policy Symposium» statt, mitorganisiert vom «Green Crescent» (Yeşilay), gesponsert vom WHO Regional Office for Europe, in Kooperation mit der türkischen Regierung. Erdogan sagte in der Eröffnungsrede des Symposiums, Alkoholkonsum könne nicht als Lebensstil gerechtfertigt werden. Er erwähnte das Alkoholgesetz von 1920 und Ali Şükrü und kritisierte dabei auch im weiteren Sinne die damalige radikale Reformpolitik Atatürks, welche der Türkei eine Modernisierung «aufgezwungen» habe. Das Alkoholtrinken bleibt jedoch in breiteren Kreisen der Türkei Symbol einer säkularistischen Weltanschauung und des Fortschritts. So auch für Deniz Som, der an jenem Herbsttag im Jahr 2006 mit einem Glas Wein gegen die Politik Erdogans protestierte.