Vor fünfzig Jahren nahm Paul Celan sich das Leben. Vor knapp hundert Jahren kam er zur Welt. Er hinterließ Gedichte, die er als Händedruck oder als Flaschenpost verstand: Wen oder wer ein Gedicht trifft, sollte verändert aus der Begegnung hervorgehen.

„Ich setze […] den Akut“, sagte Paul Celan (1920-1970) in seiner berühmten Rede anläss­lich der Verlei­hung des Georg-Büchner-Preises von 1960 mit dem Titel Der Meri­dian. Doch was war – und was ist – damit gemeint?

Celan nahm die Rede zunächst zum Anlass, eine Reihe von Texten Georg Büch­ners zu lesen, die ihm nach­haltig in Erin­ne­rung geblieben sind. Er konzen­triert sich dabei auf dieje­nigen Text­stellen, die von einem Unbe­hagen gegen­über der Kunst handeln: Was ließ sich mit Kunst nicht alles schon behaupten, machen, ja kaputt­ma­chen! „– Ach, die Kunst!“ – so lautet denn auch der Seufzer, den der Revo­lu­ti­ons­führer Camille Desmoulins in Büch­ners Drama Dantons Tod von sich gibt.

In seiner Rede kreist Celan unab­lässig um ein Problem, das er bei Büchner schon erkannt sieht: dass die Kunst – und somit auch die Lite­ratur als Kunst – die Tendenz hat, das Leben zu zerstören, das sie zu erhalten oder zu bewahren vorgibt.

Ausschnitt aus der Erst­pu­bli­ka­tion von Büch­ners Lenz-Erzählung (Tele­graph für Deutsch­land, Nr. 7, Januar 1839, S. 56, Foto: SZ). Celans Kommentar dazu in der Büchner-Preis-Rede: „‚Man möchte ein Medu­sen­haupt‘ sein, um … das Natür­liche als das Natür­liche mittels der Kunst zu erfassen! Man möchte heißt es hier frei­lich, nicht: ich möchte.“

Sinn­bild für diese Zerstö­rungs­ten­denz der Kunst ist für Celan (hier nun mit Blick auf Büch­ners Lenz) das „Medu­sen­haupt“: Es verwan­delt in Stein, was doch lebendig sein sollte. Auch der Akt des Schrei­bens und damit der Benen­nung erscheint aus dieser Perspek­tive als Vernich­tung – ein Gedanke, der sich so oder ähnlich bereits bei Hegel findet, dann bei Stéphane Mall­armé und Maurice Blan­chot.

Für Celan spitzt sich das Problem aller­dings zu. Denn nicht nur weiß er darum, dass er Kunst – im basalen Sinn einer arti­ku­lie­renden Fest­le­gung – im eigenen Schreiben nicht vermeiden kann. Celan sieht die Sprache, in der er schreibt, die deut­sche Sprache, auch nahezu komplett desavou­iert durch dieje­nigen sprach­li­chen Hand­lungen, die zum millio­nen­fa­chen Mord während der Zeit des Natio­nal­so­zia­lismus mit beigetragen haben: Euphe­mismen, Diffa­mie­rungen, Ausgren­zungen, Lügen, Befehle, Anord­nungen, Todesurteile.

Der Akut des Heutigen

„Ich setze […] den Akut“, das hieß für Celan um 1960: Ich muss heute schauen, was aus dem ganzen Schla­massel der Sprache geworden ist, was sich damit noch anfangen lässt. Celan wählt den merk­wür­digen Begriff des Akuts, weil dieser einen Akzent bezeichnet (´), der sich von zwei anderen Akzenten, dem Gravis (`) und dem Zirkum­flex (ˆ), unter­scheiden lässt – und alle drei Akzente wiederum, Akut, Gravis und Zirkum­flex, verbindet Celan mit einer bestimmten Haltung Vergan­genem gegen­über: Welchen Akzent kann man im Umgang mit dem Über­lie­ferten und auch mit Texten oder über­haupt sprach­li­chem Mate­rial aus einer vergan­genen Zeit setzen?

Der „Gravis des Histo­ri­schen“ („auch Lite­ra­tur­his­to­ri­schen“) steht in Celans Büchner-Preis-Rede für eine Haltung gegen­über dem Vergan­genen, die es mit einer Grund­aus­stat­tung an Bildung und Wissen einzu­ordnen versucht (was nicht verkehrt ist, aber von sich aus noch keinen Sinn ergibt). Der „Zirkum­flex – ein Dehnungs­zei­chen – des Ewigen“ steht für eine Haltung gegen­über allem Über­lie­ferten, die es als im Grunde unver­än­der­lich, immer­wäh­rend, gleich betrachtet, so als ob nichts Geschicht­li­ches an den Grund­festen des Daseins rütteln könnte (was für Celan aller­dings wichtig wäre). Beide Verhal­tens­weisen sind Celan suspekt: unge­nü­gend, wenn auch nicht über­flüssig im einen Fall (des Gravis), irre­füh­rend und zugleich unver­ant­wort­lich im andern Fall (des Zirkumflex).

Der „Akut des Heutigen“ bildet für Celan die einzige Option, die er sich über­haupt zu ergreifen im Stande sieht: „Ich setze – mir bleibt keine andere Wahl –, ich setze den Akut.“ Den Akut zu setzen, das heißt: sich zu fragen, was man (jeweils) heute mit dem Über­lie­ferten und also auch mit den Texten, die man liest, noch anfangen kann. Damit ist keines­wegs gesagt, dass man im Heute die Geschichte vergessen sollte – im Gegen­teil, so lautet das impli­zite Argu­ment: Gerade Geschichte muss aus dem jewei­ligen Heute heraus (also als eine Geschichte der Gegen­wart) gedacht werden, wenn sie nicht zu einer bezugs­losen Anhäu­fung wiss­barer Daten (wofür die ‚Schwere‘ des Gravis steht) oder zu einem jegliche Beson­der­heiten aufhe­benden Ideal­bild (Zirkum­flex des Ewigen) verkommen soll.

Schreiben gegen die Verdrängung

Dass Celan „keine andere Wahl“ sieht als die, den Akut zu setzen, den „Akut des Heutigen“, ist im Kontext der Rede auch darauf zu beziehen, dass Celan sich, als er am 22. Oktober 1960 die Rede vor der Deut­schen Akademie für Sprache und Dich­tung in Darm­stadt hielt, einem Publikum gegen­übersah, das (stell­ver­tre­tend für den Gesamt­zu­stand der dama­ligen Gesell­schaft) zu einem nicht geringen Teil aus Nazi-Mitläufern, Duck­mäu­sern und Tätern bestand. Celan hat (auch) aus diesem Grund nie in Deutsch­land gelebt, sondern seit 1948 prak­tisch durch­ge­hend in Paris.

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Mit der Kunst gegen die Kunst? Der antiken Über­lie­fe­rung zufolge entging Perseus dem verstei­nernden Blick der Medusa, indem er sie über den Spiegel seines Schildes ansah. Dadurch wurde es ihm zugleich möglich, sie zu enthaupten. Cara­vaggio imitiert seiner­seits den Schild und hält in der gemalten Spie­ge­lung den Schre­cken der Medusa ange­sichts ihres eigenen Todes fest. – Cara­vaggio: Scudo con testa di Medusa, ca. 1597; Quelle: Wiki­media Commons.

Die Aufent­halte in Deutsch­land (genau genommen in der BRD) und beson­ders die Erfah­rungen mit dem deut­schen Lite­ra­tur­be­trieb der 1950er- und 1960er-Jahre waren trotz der offi­zi­ellen Aner­ken­nungen und Ehrungen, die ihm zuteil­wurden, und trotz der renom­mierten Verlage, die seine Gedichte publi­zierten (zuerst die Deut­sche Verlags-Anstalt, dann S. Fischer, dann, bis heute, Suhr­kamp), nie span­nungs­frei. Oftmals waren diese Begeg­nungen sogar belei­di­gend bis desas­trös. So etwa 1952 beim Treffen mit der Gruppe 47 in Nien­dorf oder im Zuge der Pres­se­kam­pa­gnen im Zusam­men­hang der soge­nannten Goll-Affäre, als er zu Unrecht beschul­digt wurde, Gedichte von Yvan Goll plagi­iert zu haben.

Celan konnte sich nicht nicht zu den ganzen Verdrän­gungen sowie den neuen anti­se­mi­ti­schen Tendenzen, die in der Bundes­re­pu­blik der Adenauer-Ära (1949-1963) aller­orten bemerkbar waren, verhalten. „Ich setze […] den Akut“: Damit war und ist auch gesagt, dass Celan die Kata­stro­phen der Vergan­gen­heit immer auch als Kata­stro­phen der Gegen­wart begreift: sofern sie sich darin wieder­holen können.

Die pole­mischsten Äuße­rungen in diesem Zusam­men­hang finden sich in den Notizen, die Celan anfer­tigte, wenn er an seinen Gedichten und Reden arbei­tete. So etwa in der folgenden Notiz aus dem Umkreis der Arbeit am Gedicht­band Die Niemands­rose von 1963:

Wer unter dem schein­hei­ligen Vorwand, man müsse die Toten ruhen lassen, dem Mord am Lebenden zusieht, der mordet mit. Und verhöhnt damit alle Toten.

Das ist ‚Klar­text‘, der auch heute nichts an Dring­lich­keit einge­büßt hat. „Ich setze […] den Akut“ – damit verband und verbindet sich auch eine ethi­sche Provo­ka­tion: Wer Vernich­tung von Leben betreibt oder in Kauf nimmt, sollte so lange mit Gegen­stimmen rechnen, bis es damit ein Ende hat.

Dich­tung war für Celan das Medium, in dem solche Stimmen – im Plural, wie im gleich­na­migen Gedicht „Stimmen“ aus dem Sprach­gitter-Band von 1959 – vernehmbar werden konnten und sollten. Das war es, was Celan einer bloßen „Kunst“ gegen­über­stellen wollte: unsi­cher, ob das daran geknüpfte Projekt, das er – in einer eigen­ar­tigen Mischung aus empha­ti­schem Apell und völliger Illu­si­ons­lo­sig­keit – „Dich­tung“ nannte, je gelingen kann oder wird.

Gedichte als Zumutungen

Mit ‚Klar­text‘ hat man es bei den einzelnen Gedichten dann nicht mehr zu tun. Und zwar: gar nicht mehr. Celans Gedichte zählen bis heute zu den schwie­rigsten, dunkelsten, unver­ständ­lichsten über­haupt. Das gilt beson­ders für die Gedichte der Sech­zi­ger­jahre. Es mutet deshalb fast etwas boshaft an, wenn Celan – so offenbar in einem Gespräch mit dem Jugend­freund Israel Chalfen auf dessen Nach­frage, wie denn diese Gedichte zu verstehen seien – zu bedenken gibt:

Lesen Sie! Immerzu nur lesen, das Verständnis kommt von selbst.

Aller­dings verrät diese Auffor­de­rung auch kaum etwas anderes als das, was die Gedichte selber fast durch­ge­hend sind: Auffor­de­rungen eben, Initi­ie­rungen eines Dialogs, Wegmarken eines Weges, der erst noch vor einem liegt. Es gibt kaum ein Gedicht von Celan, in dem nicht ein Du vorkommt (und somit ein Dialog eröffnet wird) oder in dem nicht ein Wort, ein Name, ein Ort genannt wird, dessen Bedeu­tung erst im Verlauf der Lektüre seine Bestim­mung (oder den Abbruch einer Bestim­mung) erfährt.

In seiner Rede anläss­lich der Entge­gen­nahme des Lite­ra­tur­preises der Freien Hanse­stadt Bremen von 1958 bezeichnet Celan das Gedicht als eine „Flaschen­post“ – und im Brief vom 18. Mai 1960 an den Schrift­steller und Mitbe­gründer der Zeit­schrift Akzente Hans Bender als „Hände­druck“. Beide Umschrei­bungen, „Flaschen­post“ und „Hände­druck“, bezeichnen nicht zunächst einen Inhalt, sondern eine bloße Kontakt­auf­nahme: Darum geht es, so könnte man sagen, in Celans Dich­tung, und zwar vor allem anderen.

Für Beto­nungs­fragen inter­es­sierte sich Celan auf ganz verschie­denen Ebenen. Mit Blick auf die Aussprache seines Namens in einer Rund­funk­sen­dung bittet er in seinem Brief an Ernst Schnabel vom 23. Februar 1964 darum, „den Spre­cher darauf aufmerksam zu machen, daß ich meinen Namen nicht fran­zö­sisch ausspreche, sondern tselan, also ohne Nasal­laut am Ende und mit Beto­nung auf der ersten Silbe.“ Wollte man neben der Beto­nung die Klang­farbe des „e“ weiter präzi­sieren, müsste man es mit einem Akut (accent aigu) schreiben: „é“. „Celan“, seiner­seits ein Anagramm von „Ancel“ (rumä­nisch für „Antschel“, wie Celan ursprüng­lich hieß), ist zudem ein verschlif­fenes Laut­ana­gramm von „Lanze“ – spitz wie der Akut.

Dabei ist die Kontakt­auf­nahme oftmals provo­kativ, pole­misch, spitz – eine Dimen­sion, die auch in der Rede vom „Akut“ aufge­rufen ist (acutus: spitz, scharf) oder in den zahl­rei­chen Begriffen, die Celan der Geologie entlehnt (den Kris­tallen, den Drusen, den Erzen). Die „Geschenke“, als die Celan seine Gedichte eben­falls verstanden wissen wollte (so auch im erwähnten Brief an Hans Bender), sind mit Ansprü­chen versehen, die oftmals schlicht maßlos anmuten, in ihrer Maßlo­sig­keit aber, falls man das so sagen kann, gewollt sind.

Niemand ist gezwungen, dem latenten, oftmals auch mani­festen Auffor­de­rungs­cha­rakter von Celans Gedichten zu folgen. Tut man dies aller­dings nicht, dann bleiben diese Gedichte schlicht stumm, bloß erra­tisch, unver­ständ­lich eben. Celans Gedichte legen eine eigen­tüm­liche Ethik der Lektüre nahe. Sie sind im doppelten Sinne eine Zumutung.

Zum einen brüs­kieren sie fort­lau­fend die Erwar­tung, man brauche nur den rich­tigen Schlüssel zu finden, um das Geschrie­bene zu ‚entschlüs­seln‘ (hier setzt etwa das Gedicht „Mit wech­selndem Schlüssel“ an). Zum anderen aber sind sie Zumu­tungen in einem posi­tiven Sinne: Sie trauen ihren Lese­rinnen und Lesern zu, im Gele­senen einen eigenen „Akut des Heutigen“ zu finden – und daraus verän­dert hervor­zu­gehen (das Gedicht „Corona“ wird zur Zeit kaum zufällig beson­ders oft zitiert). An beide Zumu­tungen bleibt, fünfzig Jahre nach Celans Tod und knapp hundert Jahre nach seiner Geburt, vor allem zu erinnern.

Dieser Text bildet einen Auszug aus einem Buch, das im Spät­herbst anläss­lich des 100. Geburts- und 50. Todes­jahres Paul Celans erscheinen wird: Sandro Zanetti, Celans Lanzen. Entwürfe, Spitzen, Wort­körper, Zürich: diaphanes 2020.