Die Rückgabe von ethnologischen Sammlungen an ihre Herkunftsgesellschaften wird derzeit hitzig diskutiert. Die Debatte könnte der Beginn einer Neubestimmung der Beziehung zwischen Europa und Afrika sein und die Chance, den Blick nicht ausschliesslich auf sich selbst zu richten.

Das Humboldt-Forum in Berlin mit seinen Plänen, ein neuer Ort der Ausstel­lung ausser­eu­ro­päi­scher Kunst und Kultur in der deut­schen Haupt­stadt zu werden, war von Anfang an umstritten. Die von Opfer­ver­bänden der Nama und Herero erho­benen – und erst­mals von offi­zi­eller Seite wirk­lich ernst genom­menen – Forde­rungen nach Repa­ra­tion für den vor hundert Jahren mit einem Genozid been­deten Kolo­ni­al­krieg in Namibia haben der Ausein­an­der­set­zung über die deut­sche Kolo­ni­al­ver­gan­gen­heit eine beson­dere Schärfe gegeben. Und diese Ausein­an­der­set­zung betrifft auch das Humboldt-Forum. Nicht umsonst geht es bei der „Resti­tu­ti­ons­de­batte“ derzeit haupt­säch­lich um das afri­ka­ni­sche Kultur­erbe. Zu dieser Gewich­tung – Latein­ame­rika und Asien spielen in der öffent­li­chen Diskus­sion kaum eine Rolle – hat auch der vom fran­zö­si­schen Präsi­denten in Auftrag gege­bene und im November 2018 veröf­fent­lichte Bericht von Béné­dicte Savoy und Felwin Sarr zum Umgang Frank­reichs mit der Kunst Afrikas beigetragen. Nun geht es nicht mehr nur um die Frage, wer das afri­ka­ni­sche Kultur­erbe verwalten darf, wie und ob es ausge­stellt werden soll und warum die euro­päi­sche Kunst einen geson­derten Platz auf der Muse­ums­insel behält. Zu Recht sind nun Fragen der Samm­lungs­ge­schichte, der Prove­nienz der Objekte und der damit verknüpften politisch-moralischen Ansprüche stärker in den Mittel­punkt der Diskus­sion gerückt.

„Guter“ und „schlechter“ Kolonialismus

Horst Brede­kamp, Kunst­his­to­riker und einer der drei Grün­dungs­in­ten­danten des Humboldt-Forums, hat sich promi­nent mit der Aussage in die Diskus­sion einge­bracht, „in Berlin“ sei nicht kolo­nial, sondern im „Geist des Huma­nismus“ gesam­melt worden. Die kurze, aber brutale deut­sche Kolo­ni­al­zeit schob er zugleich ener­viert beiseite. Auf der anderen Seite tendiert die Kolo­ni­al­kritik zuweilen dazu, jedes vergan­gene Inter­esse an ausser­eu­ro­päi­scher Kunst und Kultur vorschnell als zyni­schen Macht­gestus zu „entlarven“ und die Samm­lungen allein als Zeug­nisse kolo­nialer Verbre­chen zu betrachten.

Museum of Black Civi­liza­tions, Senegal; Quelle: smithsonianmag.com

An die jewei­ligen Haltungen gegen­über den Rück­ga­be­for­de­rungen sind auch jeweils unter­schied­liche Urteile über die Bedeu­tung und Auswir­kung des Kolo­nia­lismus geknüpft. Handelte es sich um eine mehr oder weniger zu vernach­läs­si­gende Periode der deut­schen Geschichte, und für die Zeit nach 1917 sind dann die anderen Kolo­ni­al­mächte zuständig, oder muss sich Deutsch­land endlich seiner kolo­nialen Schuld stellen – und daher auch umge­hend seine Museen und Samm­lungen räumen und die unter kolo­nialen Bedin­gungen ange­eig­neten Objekte an „Afrika“ zurückgeben?

Die Dinge liegen kompli­zierter. Es steht ausser Frage, dass die Beschäf­ti­gung mit der Herkunft der Samm­lungen, die in der Ethno­logie und Kultur­wis­sen­schaft und auch in der Kunst­ge­schichte längst ein etabliertes Forschungs­feld ist, histo­risch wert­voll und poli­tisch notwendig ist. Dabei ist die Unter­schei­dung in „kolo­niales“ und „huma­nis­ti­sches Sammeln“ aller­dings wenig hilf­reich. Und auch die nun wieder häufiger zu hörende Unter­schei­dung der „guten“ und der „schlechten“ Seiten des Kolo­nia­lismus dient ausschliess­lich apolo­ge­ti­scher Recht­fer­ti­gung und hat nichts mit histo­ri­scher Erkenntnis zu tun: Wie soll etwa der „gute“ Eisen­bahnbau mit der „schlechten“ Zwangs­ar­beit verrechnet werden? Zudem argu­men­tiert dieses nur scheinbar gerechte Abwägen strikt inner­halb des kolo­nialen Wissens­ho­ri­zontes. Denn die im Namen des „Fort­schritts“ erfolgte Zerstö­rung von ange­passten Land­wirt­schafts­me­thoden, von Prak­tiken der Gesund­heits­für­sorge, der poli­ti­schen Orga­ni­sa­tion von Gemein­wesen und schliess­lich auch eines philo­so­phi­schen und ästhe­ti­schen Erbes fällt damit unter den Tisch. Zwar wird beständig mit der Vergan­gen­heit argu­men­tiert, aber eine von Afrika her gedachte Geschichte scheint dabei verzichtbar zu sein.

Es geht auch ohne Afrika…

Und gerade aus diesem Grund sind die ethno­lo­gi­schen Samm­lungen auch wichtig. Sie haben zwei mitein­ander verknüpfte Seiten: Einer­seits bergen sie einen Schatz, sind sie ein Archiv des afri­ka­ni­schen, des ausser­eu­ro­päi­schen Wissens. Unab­hängig von der Inten­tion der euro­päi­schen Sammler und der wenigen Samm­le­rinnen zeigen sie die Intel­li­genz, die Kennt­nisse und Fähig­keiten vergan­gener Gemein­schaften, von Werk­stätten sowie von einzelnen Hand­wer­kern und Künst­le­rinnen, und sind Teil der Geschichte von vergan­genen Gesell­schaften. Ande­rer­seits sind sie als Ganzes oft nur zu verstehen, wenn man den Sammler bzw. die Geste des Sammelns als verbin­dendes Element zugrunde legt, die Vorent­schei­dungen über Sammel­wür­dig­keit, die Urteile über echte und nach­ge­machte Stücke, über wahre Tradi­tionen und über Verfäl­schungen einer zuvor angeb­lich abge­schlos­senen Welt (nach Jahr­hun­derten der Skla­verei!) durch die einbre­chende Moderne. Die Syste­matik der Samm­lung erklärt sich zumeist nicht aus den Stücken selbst, und daher sind die Samm­lungen gerade auch als kolo­niale Samm­lungen eine wich­tige histo­ri­sche Quelle (das Argu­ment gilt im Prinzip auch für Samm­lungen, die vor der formalen Kolo­ni­sa­tion im Zeit­alter der euro­päi­schen Expan­sion entstanden sind).

Leider inter­es­siert diese unauf­lös­liche Verwo­ben­heit im euro­päi­schen Kontext der Resti­tu­ti­ons­de­batte wenig. Eine klare Haltung scheint, so gewinnt man den Eindruck, auch ohne jede Kenntnis der afri­ka­ni­schen Geschichte möglich, und genau hier liegt ein Problem. Es reicht nicht, sich ange­sichts der massiven Kritik aus Herkunfts­ge­sell­schaften entweder auf die Posi­tion des „huma­nis­ti­schen Sammelns“ zurück­zu­ziehen – oder Hals über Kopf alles in Kisten zu packen und (wohin?) zurück­zu­schi­cken. Natür­lich findet sich für jede Posi­tion die passende „afri­ka­ni­sche“ Stimme, aber hier liegt ein weiteres Problem.

Museum of Civi­liza­tion, Kamerun; Quelle: travelocameroon.com

Ob akti­vis­ti­scher Student aus Nairobi, ob konser­va­tive Muse­ums­di­rek­torin aus Dakar, ob progres­siver Künstler aus Kinshasa – sie reprä­sen­tieren in der euro­päi­schen Debatte stets „Afrika“ insge­samt und nicht sich selbst in einem grossen Stimmenkonzert.

Daher ist der Bericht der Kunst­his­to­ri­kerin Béné­dicte Savoy und des Ökono­mie­pro­fes­sors Felwin Sarr, Autor des in viele Spra­chen über­setzen Essays «Afro­topia», als eine erste Bestands­auf­nahme so wert­voll. So wie viele Debat­ten­bei­träge ohne grös­sere Kenntnis der afri­ka­ni­schen Muse­ums­land­schaft, der jeweils konkreten Rück­ga­be­for­de­rungen und der dahin­ter­ste­henden histo­ri­schen Tatsa­chen auskommen, so wenig ist der viel­zi­tierte Bericht wirk­lich bekannt; jeden­falls wird er zumeist herun­ter­ge­dampft auf die Forde­rung, „alles“ müsse zurück­ge­geben werden. Und das Feuil­leton macht dann daraus die besorgte Frage, ob „die Afri­kaner“ diesen wert­vollen Schatz denn über­haupt hüten könnten? Abge­sehen davon, dass kein afri­ka­ni­sches Land und kein Museum tatsäch­lich die Hunder­tau­sende Objekte zurück­haben möchte, kann die Antwort auf eine so pauschal gestellte Frage nur ebenso pauschal lauten: ja, selbst­ver­ständ­lich. Denn das zeigt letzt­lich eben auch der auf einer umfang­rei­chen Forschung, fünf Reisen in vier fran­ko­phone afri­ka­ni­sche Länder und mehr als 150 Inter­views beru­hende Bericht mit dem Unter­titel „Hin zu einer neuen Beziehungsethik“.

Was steht im Bericht?

Dem Bericht von Savoy und Sarr voraus­ge­gangen war die über­ra­schende Ankün­di­gung von Emma­nuel Macron Ende 2017 während einer Rede an der Univer­sität in Ouag­adougou, die Kunst Afrikas aus den fran­zö­si­schen Museen zurück­geben zu wollen. Über­ra­schend auch deshalb, weil sich die Ende der 1990er Jahre aufge­nom­menen Verhand­lungen zwischen Frank­reich und Südafrika über die Rück­gabe der sterb­li­chen Über­reste von Sarah Baartman aus dem Musée de l’Homme in Paris immerhin über acht Jahre lang hinge­zogen hatten, obwohl die Prove­nienz eindeutig und die Rück­gabe ein Gebot zumin­dest diplo­ma­ti­scher Höflich­keit gewesen wäre. Aller­dings galten die Knochen und Präpa­rate der im frühen 19. Jahr­hun­dert als «Hotten­tot­ten­venus» in Frank­reich und England ausge­stellten Sarah Baartman – sie war vom berühmten Natur­for­scher und Anatom Georges Cuvier seziert worden – als ein für Frank­reich unver­äus­ser­li­ches patri­moine. Macrons Bemer­kung in Ouag­adougou, dass die Kunst Afrikas nicht nur in Paris, sondern auch in der Haupt­stadt Burkina Fasos, in Lagos und in Dakar gezeigt werden sollte, bezeich­nete daher tatsäch­lich eine markante Wende Frank­reichs im Umgang mit den dem patri­moine zuge­rech­neten Sammlungen.

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Als einen ersten Schritt haben Savoy und Sarr zunächst eine Bestands­auf­nahme der etwa 70.000 afri­ka­ni­schen Objekte im Musée de Quai Branly in Paris auf Basis von Inven­tar­listen vorge­nommen und dabei fest­ge­stellt, dass 66% der Objekte während der Kolo­ni­al­zeit nach Paris gekommen waren und sich ihr geogra­fi­scher Ursprung mit dem Gebiet des fran­zö­si­schen Kolo­ni­al­reichs deckt. An der engen Verbin­dung zwischen Kolonie, Samm­lung und Museum kann also kein Zweifel bestehen.

Der Bericht hat drei zeit­liche Ebenen: Erstens die histo­ri­sche Forschung mit den verfüg­baren Unter­lagen aus Samm­lungen und Museen, zwei­tens eine Kartie­rung von 500 afri­ka­ni­schen Museen sowie zahl­reiche Gespräche und Inter­views mit Exper­tinnen und Experten vor Ort und drit­tens einen Zukunfts­aspekt, der auch die mögliche Verän­de­rung der Rechts­lage betrifft. Erforscht wurde, so Savoy im Inter­view, eine Geschichte des Kommens in die euro­päi­schen Museen und eine der Abwe­sen­heit in den afri­ka­ni­schen Herkunfts­ge­sell­schaften, in denen Erin­ne­rungen an den Verlust bis in die Popkultur hinein präsent sind. Ein Beispiel ist der nige­ria­ni­sche Block­buster Inva­sion 1897 von 2014, der die Geschichte der sog. Benin-Bronzen verar­beitet, die gera­dezu emble­ma­tisch für die Rück­ga­be­de­batte geworden sind. 1897 hatten briti­sche Truppen den Königs­pa­last in Edo, der Haupt­stadt des König­reich Benin im Süden Nige­rias, gestürmt und geplün­dert. Er war mit Tausenden von Metall­platten und Skulp­turen verziert, die heute im Besitz von Museen in aller Welt sind, u.a. auch in Berlin, und die bereits seit den 1960er-Jahren von Nigeria zurück­ge­for­dert werden.

Der kongo­le­si­sche Künstler Sinzo Aanza bei der Vorbe­rei­tung einer Instal­la­tion
Quelle: privat

Die mangelnde Präsenz des afri­ka­ni­schen Kultur­erbes in Afrika hat nichts mit mangelnder Wert­schät­zung zu tun. Während der Epoche der kolo­nialen Unter­wer­fung wurden selbst­ver­ständ­lich (bis auf Ausnahmen) keine Museen aufge­baut, sondern im Gegen­teil die Paläste, Biblio­theken und Schreine geplün­dert und ihre Schätze nach Europa verschifft. Kolo­ni­al­be­amte und Mili­tärs bekamen konkrete Samm­lungs­an­wei­sungen an die Hand, Forscher und Missio­nare trugen von Menschen­kno­chen über Insekten bis zu Königs­thronen alles zusammen, was von Inter­esse erschien.

Mündet der Bericht also im Appell „Gebt alles zurück“? Nein – sondern die hier erfolgte Bestands­auf­nahme schafft die Bedin­gungen für neue, auch gemein­same Projekte, wie auch für die Zugäng­lich­keit zu einem mate­ri­ellen Kultur­erbe, das zu grossen Teilen in Depots lagert. Ein Univer­si­täts­mu­seum in Dakar, das Sayor und Sarr besucht haben, inter­es­siert sich z.B. für histo­ri­sche Fischer­netze, die sich in solchen Depots in Europa finden lassen. Warum? Weil ein Forschungs­pro­jekt an der dortigen Univer­sität die in diese Fischer­netze einge­knüpften Algo­rithmen und die damit verbun­dene Kosmo­logie entzif­fern möchte.

Dazu kommt, dass die bisher erho­benen Rück­for­de­rungen äusserst moderat sind. Savoy schätzt, dass sie höchs­tens einige 100 Arte­fakte aus dem Musée de Quai Bandly mit seinen allein 70’000 Objekten aus Afrika betreffen. Und manchmal geht es afri­ka­ni­schen Museen nur darum, in eigenen Samm­lungs­reihen wenige Objekte zu ergänzen, wie etwa in einem Museum in Bamako (Mali).

Welt­erkun­dung

Das Berliner Humboldt-Forum soll ein „Ort der Welt­erkun­dung“ sein. Warum kann diese Erkun­dung nicht von Anfang an im Austausch mit ausser­eu­ro­päi­schen Museen, Intel­lek­tu­ellen, Wissens­be­wah­rern und Kultur­schaf­fenden statt­finden? Warum herrscht weiterhin eine euro­päi­sche Entde­cker­per­spek­tive vor, die von aussen auf die Welt der Anderen schaut, deren histo­ri­sche und kultu­relle „Geografie“ doch aus genau dieser Perspek­tive über­haupt erst konstru­iert worden ist. Ein anderer Umgang mit dem kolo­nialen Erbe – einer Erbschaft, die nicht davon abhängt, wie lange und über wie viele Gebiete ein Land formal geherrscht hat – kann und soll auch Tradi­tionen der Aufklä­rung, von denen Horst Brede­kamp spricht, neu beleben: Etwa die früheren Welt­erkun­dungen von Georg Forster, den Gebrü­dern Humboldt oder Johann Gott­fried Herder, die nicht in kolo­ni­sie­render Absicht „entdeckten“ und sogar dezi­diert kolo­ni­al­kri­tisch argu­men­tierten. Und viel­leicht bleibt dann in der Reise­ge­sell­schaft sogar noch Platz für die Welt­erkunder von den anderen Konti­nenten, die der Welt nicht nur Arte­fakte, sondern auch Ideen, Konzepte, Gedanken und Texte hinter­lassen haben.