Es war nicht alles schlecht am Kolonialismus. Auf diesen Punkt lassen sich die Äusserungen bringen, mit denen Günther Nooke, der Afrika-Beauftrage der Deutschen Kanzlerin, vor einiger Zeit für Aufsehen sorgte. „Der Kalte Krieg“, so wusste Nooke zu verkünden, habe „Afrika mehr geschadet als die Kolonialzeit“. Der Sklavenhandel etwa sei zwar „schlimm“ gewesen, doch die europäische Herrschaft in Afrika habe „dazu beigetragen, den Kontinent aus archaischen Strukturen zu lösen“, auch wenn man heute sehen müsse, dass dies nur unvollständig gelungen sei. Die Gesellschaften in Afrika „funktionieren anders“, seien noch immer bestimmt durch „Clan-Strukturen, der Rolle von Stammesführern, der Vielzahl an Ethnien und tradierten Verhaltensweisen“, etwa in den Bereichen Fortpflanzung und Wirtschaft.
Ob diese Äusserungen als rassistisch zu werten sind, wie viele NGOs und Politiker Nooke danach vorwarfen, ob er gar selbst als Rassist zu bezeichnen ist, sei hier einmal dahingestellt. Interessanter ist es, danach zu fragen, welches Bild er genau von Afrika und der afrikanischen Geschichte verbreitet, wenn er von archaischen Gesellschaften fabuliert, die in Clan-Strukturen verharren und durch Kinderreichtum und niedrige Arbeitsproduktivität auffallen. Und denen der Kalte Krieg mehr als der Kolonialismus geschadet hätte. Woher bezieht er sein historisches Wissen über Afrika?
Archaische Afrika-Bilder
Geht man dem Geschichtsbild nach, das Nooke hier offenbart, zeigt sich, dass seine Vorstellungen so weit verbreitet und gängig sind, dass er sie mit vielen Menschen teilt, die sich keineswegs als Rassisten bezeichnen lassen würden, darunter vermutlich auch solche, die Günter Nooke ebendies, eine rassistische Haltung, vorwerfen. Zu diesem historischen Afrika-Bild gehört, dass es auf seltsame Weise einfach da ist. Weder Nooke, noch die meisten seiner Kritiker*innen dürften sich jemals in John Iliffes grundlegende Geschichte Afrikas vertieft oder sich mit der Forschungsliteratur befasst haben. Das gilt natürlich auch für den populären Diskurs über jede andere Region der Welt und deren Geschichte: auch über China oder Lateinamerika oder die Geschichte des eigenen Landes weiss man irgendwie Bescheid, ohne die Forschung zu kennen. Aber im Falle Afrikas sind die Vorurteile besonders hartnäckig und vor allem: unerschütterlich. Und so erscheint selbstverständlich, dass in Afrika Gesellschaften in „Stämmen“ organisiert waren, keine Schrift und keinen Staat kannten, und erst der Kolonialismus – bei aller zugegebenen Brutalität – Schrift, Staat und Moderne gebracht hat. Mit seinen rigorosen Grenzziehungen habe er (leider) neue Stammeskonflikte hervorgerufen, bevor die alten beendet werden konnten. Wo dieses Afrika genau anzusiedeln ist, im Kongo oder im Sudan, in Tansania oder im Senegal, in Timbuktu oder Kairo, ob die Rede vom 17., 18. oder 19. Jahrhundert ist – all das spielt keine Rolle.
Leider wird auch von der Kolonialkritik häufig das Bild eines geschichtslosen und irgendwie unschuldigen Afrikas (mit)verbreitet, und zwar schlicht, weil dessen vielfältige Geschichte nicht interessiert, oder zumindest nur als Kolonialschuld. Ein Blick in die Geschichte des heutigen Namibias zeigt allerdings, dass es sich lohnt, nicht nur den (vermeintlichen) Rassismus eines Günter Nooke aufzuspüren, wenn er mal eben Aufklärung und Säkularisierung als europäischen Sonderweg „für uns“ reklamiert, wobei die Sklaverei zwar schlimm gewesen sei, aber Europa Afrika schliesslich aus archaischen Strukturen gelöst habe. Vielmehr ist es ebenso wichtig, generell Afrika-Bilder zu überprüfen.
Antikoloniale Gegenwehr
„Ich protestiere hiermit auf das ernstlichste gegen alle und jede Erwerbung von Land und Mineralien in diesen angegebenen Grenzen…“ Mit diesen Worten empfing das Oberhaupt der Herero 1884 in der künftigen Kolonie Südwestafrika die Kolonialherren. Als die Deutschen in diesem Jahr schliesslich doch noch zur Kolonialmacht in Übersee werden wollten (Bismarck hatte bekanntlich lange gezögert), stiessen sie nicht auf eine Terra Nullius – also auf leere und ungenutzte Gebiete. Bei dieser Vorstellung handelt es sich nur um einen üblichen Rechtfertigungsgrund für den Kolonialismus. Die künftigen Kolonien waren stets bereits von Ackerbauern und Viehhaltern besiedelt und bewirtschaftet. Die afrikanischen Gesellschaften waren sich zudem der europäischen Begehrlichkeiten durchaus bewusst; auch weil sie häufig bereits von Kolonien und Protektoraten umgeben waren oder in deren Einflussgebiet lagen, bevor die Europäer auch bei ihnen ihre Herrschaft etablierten.
Von protestantischen Missionaren, die seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert intensiv versuchten, die «Heiden» für das Christentum zu gewinnen, wussten die einheimischen Eliten mehr oder weniger gut über die Politik der imperialistischen Mächte Bescheid. Über grosse Distanzen hinweg kommunizierten die afrikanischen Führer untereinander und nutzten dabei Boten und Briefe als Medien der Diplomatie. In diese diplomatischen Netzwerke versuchten sie zu Beginn der Kolonialzeit die Abgesandten aus dem fernen Deutschland einzubeziehen, denen gegenüber sie sich als gleichwertige Verhandlungspartner sahen: Souveräne über ihre Untertanen und Siedlungsgebiete, die in eigenem Interesse Verträge mit Kaufleuten und Kolonialbeamten schlossen.
Kolonialpolitik mit und in Afrika
Zwar waren eine Reihe dieser Verträge missverständlich oder betrügerisch, doch wurden hier nicht routinemässig „edle Wilde“ übers Ohr gehauen, wie die bisweilen etwas paternalistische Kolonialkritik nahelegt. Nicht Glasperlen und Alkohol standen am Beginn der kolonialen Fremdherrschaft, sondern sehr oft Verhandlungen, in denen afrikanische Führer als selbstbewusste Akteure auftraten. Noch 1905 versuchten 27 kamerunische Herrscher in einem gemeinsamen Brief an den Reichstag eine Wendung der Politik zu erreichen. Sie schrieben:
Den Herrn Gouverneur von Puttkamer, dessen Richtern, Bezirksamtmänner, kurz seine ganze Regierungsbesatzung wollen wir nicht mehr hier haben. Sämtliche jetzigen Gouvernementsbeamten des Schutzgebietes Kamerun bitten wir forträumen zu wollen, denn ihre Regierung führen sie nicht gut, sie sind nicht gerechtfertigt, ihre Art und Weise exploitieren das Land.

Hendrik Witbooi; Quelle: namibiafocus.com
Dass solche Bemühungen letztlich kaum erfolgreich sein konnten, lag an der dramatischen Fehleinschätzung des unbedingten Herrschaftswillens der vermeintlichen Verhandlungspartner aus Europa und an dem nahezu unbegrenzten Nachschub an Kolonialtruppen. Auch innerhalb und zwischen den afrikanischen Viehhalter- und Agrargesellschaften herrschte Konkurrenz bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen, doch zugleich wurden Bündnisse und Allianzen geschlossen. Das zeigen etwa die Briefe zwischen dem hochrangigen Nama-Führer Hendrik Witbooi und dem Omuhona (Oberhaupt) der Herero Maharero sowie dessen Sohn Samuel. Sie stritten in einem regen Austausch über die Rechtmässigkeit der von ihnen geführten Kriege, die Bedingungen eines Friedensschlusses und ihr jeweiliges Verhältnis zu den Deutschen, über deren Stärke und Absichten anfänglich keine Klarheit bestand. Als sich schließlich eine Allianz zwischen Nama und Herero abzeichnete, überfiel die „Schutztruppe“, wie sich das deutsche Kolonialmilitär nannte, den Hauptsitz von Hendrik Witbooi und tötete 80 Männer und Frauen, viele von ihnen unbewaffnet. Die Unterwerfungskriege in den verschiedenen deutschen „Schutzgebieten“ sollten bis zum Ende der deutschen Kolonialherrschaft dauern. Doch die brutale Gewalt der Deutschen lässt leicht davon absehen, dass afrikanische Herrscher und Bevölkerungen der Kolonialpolitik nicht nur ausgesetzt waren, sondern dass sie diese – durchaus auch in Konkurrenz zueinander – zu gestalten versuchten.
Die Geburt des „Stammes“ in Europa

Rudolf Manga Bell; Quelle: spiegel.de
Den eigenen Blick für das aktive und selbstbewusste Handeln afrikanischer Politiker offenzuhalten ist auch wichtig, um die vielen unterschiedlichen Vergesellschaftungsformen wahrnehmen zu können, die in Afrika bestanden. Von lockeren Clan-Föderationen bis hin zu zentralisierten Königtümern reichten die politischen und gesellschaftlichen Formationen des Kontinentes, die nur in seltenen Fällen eine Übereinstimmung von Sprache, Kultur und Religion als Basis gesellschaftlicher Organisation kannten. Dass diese Vielfalt heute unterschlagen wird, wenn etwa Günther Nooke von „archaischen Strukturen“ und „Stämmen“ spricht, ist das Ergebnis eines europäischen Blickes, den der Kolonialismus etablierte.
Die europäischen Mächte – insbesondere Deutschland – hatten sich als Nationen im 19. Jahrhundert (neu) erfunden, mit einem klar umrissenen Territorium, homogener Sprache, Kultur und Religion sowie einer gemeinsamen Abstammung. Dieses Konzept übertrugen sie, wenn auch in stark verkleinertem Massstab, auf die Kolonie. So wurde der „Stamm“ geboren und mit der Leitkategorie der „Tradition“ verbunden. Traditionen, angeblich die unverrückbare Grundlage von Kosmologie und Rechtssystem, Gesellschaftsordnung und Geschlechterverhältnis, Erbfolge und Herrschaftssystemen, wurden erneuert, erfunden, umgebogen – und zwar von beiden Seiten.
Die Motive der Kolonialherren sind klar: Sie brauchten klare Verwaltungseinheiten mit eindeutigen Hierarchien. Warum aber liessen sich die Afrikaner auf das Stammeskonzept ein? Für sie ging es um eine Legitimierung von zumindest begrenzten Herrschaftsansprüchen, darum, sich innerhalb der kolonialen Ordnung überhaupt noch Gehör zu verschaffen. Ob ein von den Deutschen anerkannter „Oberhäuptling“ tatsächlich in der Erbfolge Vorrang hatte, ob es dieses Amt überhaupt gab, spielte für koloniale Verwaltungen kaum eine Rolle. Afrikanischen Politikern eröffnete dies jedoch Chancen unter den grundlegend geänderten Bedingungen der europäischen Vorherrschaft weiterhin Handlungsmacht behaupten zu können.
Verdunkelte Geschichte
Die Eingriffe der europäischen Herrschaft waren umfassend: Die deutschen Kolonien lagen allerdings schon lange vor der formalen Machtergreifung im Einflussgebiet der Weltwirtschaft, der Handel hatte Konsumgewohnheiten, Kleidungsstil und militärische Ausrüstungen verändert. Und noch tiefgreifender waren die Auswirkungen des transatlantischen Sklavenhandels bei der Transformation des afrikanischen Kontinents. Er hat unendliches Elend über Einzelne, Familien und Gesellschaften gebracht. Langfristig ebenso wichtig ist aber, dass er entscheidend dazu beitrug, Geschichte und historische Überlieferung der afrikanischen Gesellschaften zu zerstören. Auch wenn einige Kolonialbeamte wertvolle Dokumente hinsichtlich der afrikanischen Geschichte hinterlassen haben, erschweren sie mit ihren europäischen Kategorien von „Stamm“ und „Tradition“ eine Rekonstruktion der vorkolonialen Geschichte. Etwa des afrikanischen Mittelalters, das der französische Historiker und Archäologe François-Xavier Fauvelle als die „goldenen Jahrhunderte“ bezeichnet hat. Ein Afrika, das die Entwicklung von Städten erlebt hatte, in denen Fürsten ihre Paläste, Moscheen oder Kirchen bauten, wo fremde Kaufleute und Gelehrte ansässig waren.
Es war entscheidend an der Ausbeutung seiner eigenen Ressourcen beteiligt, unter denen das Gold eine besondere Stellung einnahm. In der damaligen Welt genoss dieses Afrika hohes Ansehen, von Europa bis China.
Etliche diese Gesellschaften besassen eine sehr frühe Schriftkultur, die mit dem Islam einen weiteren Impuls erhielt. Dennoch ist die vorkoloniale Zeit des bis weit ins 20. Jahrhundert hinein äusserst dünn besiedelten Kontinents noch immer wenig erforscht. Das mag zum einen der komplexen Quellenlage geschuldet sein, die eine interdisziplinäre Forschung von Sprachwissenschaft, Geschichte, Archäologie und Ethnologie erforderte. Es gibt nur wenige Grabungen, tausende von Sprachen und kaum Experten, die sowohl alte Manuskripte als auch Artefakte analysieren können. Doch die mangelnde Forschung hat auch mit dem selbst in universitären Kreisen tief verwurzelten Mythos von Afrika als geschichtslosem Kontinent zu tun, den Sklavenhandel und Kolonialherrschaft etablierten. Auch wenn längst nachgewiesen ist, dass selbst dort, wo orale Traditionen und Literaturen anstelle von Schriftkulturen in der vorkolonialen Epoche dominierten, Geschichtsbewusstsein und konkrete historische Überlieferung existierten.
Die schriftlichen und mündlichen afrikanischen „Archive“ sind allerdings durch den Kolonialismus verheert worden. Er hat den Kontinent dunkel gemacht. Dennoch ermöglicht das koloniale Archiv, liest man es gegen den Strich, einen zumindest flüchtigen Blick auf eine andere afrikanische Geschichte und lässt afrikanische Perspektiven erahnen. Diese sind nicht nur in kolonialen Schriftstücken, sondern auch in zahllosen, noch nicht ausgewerteten schriftlichen Zeugnissen überliefert, die Afrikanerinnen und Afrikaner verfasst haben. Dass ihre Existenz noch immer regelmäßig selbst Historikerinnen und Historiker überrascht, verweist nur darauf, wie tief der Kolonialismus die Vorstellung des archaischen Afrikas und der europäischen Zivilisatoren verankerte.

Samuel Maharero (dritter von links); Quelle: Wikipedia
Die Kolonialherren sahen in den kolonialen Subjekten vor allem willige Arbeitskräfte und interpretierten jede Form selbstbewusster Äußerung als unrechtmässige Erhebung, als Aufstand, angezettelt von Unruhestiftern, die sich der Zivilisierung und Entwicklung verschlossen. Doch in ihren eigenen Schreiben treten uns Afrikanerinnen und Afrikaner ganz anders gegenüber. Samuel Maharero etwa schrieb im März 1904 zu den Ursachen des verheerenden Kolonialkriegs im heutigen Namibia an den Gouverneur Leutwein:
Deinen Brief habe ich empfangen, und ich habe alles gut verstanden, was Du darin an mich und meine Großleute geschrieben hast. Ich und meine Großleute antworten Dir folgendermaßen: Der Anfang des Krieges ist nicht angefangen worden durch mich in diesem Jahr, sondern er ist begonnen worden durch die Weißen, … und besonders die Händler, wieviel Herero haben sie getötet, sowohl durch Gewehre wie durch Einsperren in die Gefängnisse … Und fingen an meine Leute bezahlen zu lassen und das Vieh wegzutreiben… Diese Dinge haben den Krieg in diesem Land entstehen lassen.
Diese Stimmen wahrzunehmen, sie in ein Bild von Afrika und seiner Geschichte zu integrieren, das die kolonialen Kategorien hinter sich lassen kann und die Vielfalt seiner historischen Entwicklung in den Mittelpunkt stellt, stellt vielleicht die wichtigste Aufgabe in der gegenwärtigen Debatte um den Kontinent dar. Sie sollte auch dem Afrika-Beauftragten der deutschen Bundesregierung am Herzen liegen.
Eine kürzere Version des Textes ist erschienen in Zeit Geschichte 4/19 Die Deutschen und ihre Kolonien, 23.7.2019