Dirk Moses’ Intervention in Geschichte der Gegenwart zur aktuellen Erinnerungspolitik in Deutschland hat eine Welle von Reaktionen ausgelöst. Für die Spezialist:innen, die sich mit der deutschen Geschichte beschäftigen und die außerhalb Deutschlands arbeiten und leben, mögen der Zorn und die Giftigkeit einiger Reaktionen überraschend gewesen sein. Für diejenigen Nichtdeutschen, die sich innerhalb der deutschen Wissenschaft bewegen, stimmten diese Reaktionen mit den meisten anderen Debatten überein, die auf Anfechtungen dieses „Evangeliums“ folgten: Konservative Stimmen rügen jede Kritik an der Erfolgsgeschichte der Vergangenheitsbewältigung, und Progressive warnen vor Perspektiven einer Neubewertung des deutschen Antisemitismus als Teil einer globaleren Geschichte von Judenfeindlichkeit und Rassismus, die in der europäischen Geschichte verankert ist. Der von Moses beschriebene Zeitgeist scheint Versuche, die deutsche Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts im Sinne von Dipesh Chakrabrati zu „provinzialisieren“, innerhalb der deutschen Wissenschaft fast unmöglich zu machen. Es folgen oftmals Relativierungsvorwürfe. Es ist daher nicht erstaunlich, dass Moses’ Kritik aus dem anglo-amerikanischen Raum kam und seine Anklage des „Deutschen Katechismus“ als Missverständnis der deutschen Nachkriegsgeschichte präsentiert wurde.
Als nicht in Deutschland gebürtiger, aber in Deutschland ausgebildeter Spezialist, der die Erinnerung an den Nationalsozialismus aus einer globalen Perspektive erforscht, sind mir diese Debatten nicht neu. Moses’ Kritik am „Katechismus“ fordert die Überzeugung heraus, dass die deutsche Erinnerungskultur seit 1945, so verwickelt und komplex sie auch sein mag, im Großen und Ganzen eine Erfolgsgeschichte sei. Das ist von weitreichender Bedeutung, weil diese Intervention das starke Gefühl des Stolzes und des Erfolgs über eine in der Tat bemerkenswerte Leistung in Frage stellt, nämlich die Bewältigung einer äußerst gewalttätigen Vergangenheit – ein Prozess, der natürlich nie wirklich abgeschlossen ist. Ich möchte diese Erfolgsgeschichte meinerseits in Frage stellen, indem ich einen kurzen Blick auf den Einbezug von queerer Geschichte in die deutsche Erinnerungskultur werfe, und zeige, dass Spannungen innerhalb der queeren Community selbst, vor allem in Bezug auf race, aber auch auf Geschlecht, darauf hindeuten, wie viel es hier noch zu tun gibt.
Weite Teile der deutschen Linken lehnen – ob außerhalb oder innerhalb der akademischen Welt – globale und transnationale Perspektiven ab. In einer Stadt wie Berlin manifestiert sich dies auf verschiedene Weise, vom Augenrollen auf Konferenzen bis hin zur paternalistischen Ablehnung internationaler Wissenschaft, insbesondere im Bereich feministischer, queerer und postkolonialer Theorie. Ich stimme nicht ganz mit Moses überein, dass dieser deutsche Katechismus überall gilt. Vielmehr er ist facettenreich und nimmt viele Formen an. Es handelt sich um eine neue Art von Schnittmenge, in der sich die Ideen von Nationalist:innen und Antinationalist:innen treffen und zuweilen auch vermischen, von der AfD bis zur rassistischen Blase der sogenannten antideutschen „Linken“ – jene Strömung linker Politik, die zwar beobachtet, wie im Land der Shoah der Antisemitismus unter Progressiven Fuß fasst, dabei aber islamophobe Schlagworte reproduziert, die üblicherweise am rechten Rand des politischen Spektrums zu finden sind.
Kampf um Entkriminialisierung
Im Folgenden geht es mir darum, wie dieser Deutsche Katechismus von sozialen Bewegungen in Deutschland benutzt wird und die Opfer seiner Priester inzwischen selbst zu Inquisitoren geworden sind. Als queerer Wissenschaftler, der über queere transatlantische Erinnerungen an den Nationalsozialismus arbeitet, bin ich besonders daran interessiert, wie cis-gegenderte, weiße und schwule Männer wie ich, Männer, deren Geschlechtsidentität mit ihrem Geburtsgeschlecht übereinstimmt, den Katechismus als Waffe benutzten und sein Evangelium predigten, um eine Selbstreflexion über Rassismus zu vermeiden.
Der Weg der Homosexuellen in den Mainstream war holprig, um das Mindeste zu sagen. Angefangen von der Aufdeckung der nationalsozialistischen Verfolgungen von Homosexualitäten, die von manchen einen Akt der Offenbarung erforderten, bis hin zum jahrzehntelangen Kampf um die Streichung des Paragraphen des Strafgesetzbuches, der nicht-heteronormative Sexualitäten zwischen Männern kriminalisierte (§175), haben schwule Aktivisten gelitten, wurden geächtet und mussten mit schlimmen Konsequenzen rechnen, wenn sie ihre Meinung äußerten. Dieser (immer noch nicht beendete) Kampf wurde richtigerweise als ein Ringen um die Menschenrechte verstanden. Um ihre Rechte einzufordern, verknüpften schwule Männer ihren Kampf mit einer Vergangenheit, in der sie verletzt wurden, einer Zeit ihrer Viktimisierung. Das ist nicht per se eine Instrumentalisierung der nationalsozialistischen Verbrechen. Schwule Männer in den 1970er Jahren waren sich nämlich durchaus bewusst, dass die von den Nationalsozialisten kodifizierte Version des §175 erst Ende der 1960er Jahre entnazifiziert wurde. Obwohl Richard von Weizsäcker bekanntlich 1985 Schwule in die Liste der Opfer des Naziregimes aufnahm, kamen offizielle Entschuldigungen und Wiedergutmachungen erst viel später, und zwar im Jahr 2002 – als Resultat unermüdlicher Arbeit seitens queerer Aktivist:innen. Trotz dieser großen Fortschritte benutzten einige schwule Aktivisten die lange Geschichte von Unterdrückung und Widerstand jedoch wie ein Schutzschild, um sich vor der Auseinandersetzung mit den realen und andauernden Konflikten innerhalb der Community um lesbischen Feminismus und Queer-Theorie und gegen die antirassistische Kritik an der weißen queeren Überlegenheit (supremacy) zu schützen.
Opferkonkurrenz und schwierige Solidarität
Während der frühen Jahre der deutschen homosexuellen Befreiungsbewegung relativierten viele Aktivisten den Holocaust selbst. Obwohl dies im Zuge der Professionalisierung der schwulen und lesbischen Geschichtsschreibung in den 1980er Jahren entschieden zurückgewiesen wurde, blieb der Mythos eines versteckten „Homocaust“ in der Community jedoch weit verbreitet. In einer Mischung aus antisemitischen Ressentiments gegenüber jüdischen Opfern des Holocaust, die laut den Befürwortern dieses Mythos angeblich alle Aufmerksamkeit für die Opferrolle für sich beansprucht hätten, und dem Wunsch nach Anerkennung des queeren Leidens, behaupteten seine Vertreter irgendwann sogar, dass mehr Homosexuelle ermordet worden seien als jüdische Opfer und dass es eine schlimmere Strafe gewesen sei, als schwuler nicht-jüdischer Mann in einem Konzentrationslager zu sein denn als jüdischer Deportierter. Die Geschichten von jüdischen schwulen Opfern kamen in diesem Narrativ kaum vor. Es stimmt zwar, dass viele ehemalige Anhänger dieses Mythos‘ jene Phase des schwulen Erinnerungsaktivismus inzwischen verurteilt haben; dennoch bleibt die Tatsache, dass die deutsche Homosexuellenbefreiung und die Herstellung einer schwulen kollektiven Identität in Deutschland in antisemitischen Tropen und Ressentiments verankert waren.
Diese Diskussionen über Antisemitismus und die Relativierung des Holocaust tauchten während der Debatten über die Errichtung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin erneut auf. Verschiedene Aktivisten, einige jüdisch, andere nicht, wiesen seinerzeit zwar auf die Singularität der Ermordung der europäischen Juden und Jüdinnen hin, kritisierten aber, dass mit dem geplanten Denkmal nur ein einziges Narrativ über die Grausamkeiten des Nationalsozialismus in Stein gemeißelt werde. Umgekehrt empörten sich ihre Gegner in den deutschen Feuilletons über die Idee, den Holocaust gemeinsam mit anderen Verbrechen der Nationalsozialisten zu erinnern.
Schwule Aktivisten drückten damals ihre Solidarität mit verschiedenen Gruppen von Überlebenden aus, insbesondere mit den Sinti und Roma. Das änderte sich allerdings im Jahr 2008. Der gerade noch spürbare Geist der Solidarität mit anderen Opfergruppen löste sich schnell auf, als Pläne für ein Denkmal für schwule Opfer – im Tiergarten, auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Holocaust-Denkmals –, Gestalt annahmen. Das wurde hauptsächlich sichtbar, als man sich mit formalrechtlichen Argumenten dagegen verwehrte, die Unterdrückung von Lesben in das Gedenken einzubeziehen, obwohl eine reichhaltige Geschichtsschreibung zeigte, dass auch Frauen unterdrückt worden waren, wenn auch auf andere Weise. Eingeladen, das Brot und den Wein der Vergangenheitsbewältigung zu teilen, predigten schwule Aktivisten den Deutschen Katechismus, um die Anerkennung schwuler Erinnerungen an ihre Viktiminisierung zu sichern – und dies auf Kosten anderer.
Am Ende konnten die Feministinnen zwar erreichen, dass das Denkmal eine vielfältigere Gruppe von Opfern historischer und gegenwärtiger Homophobie widerspiegelt; aber das war kein leichtes Unterfangen. Während das Denkmal damit heute ein wichtiger Teil im Feld des deutschen Erinnerns ist, verrät der Text auf seiner Gedenktafel allerdings andere Spannungen und blinde Flecken innerhalb der Queer-Community. Er deutet an, dass Homophobie nicht in Deutschland heimisch ist, sondern etwas sei, das zu anderen Teilen der Welt gehört: „Aus seiner Geschichte heraus“, so heißt es hier, „hat Deutschland eine besondere Verantwortung, Menschenrechtsverletzungen gegenüber Schwulen und Lesben entschieden entgegenzutreten. In vielen Teilen dieser Welt werden Menschen wegen ihrer sexuellen Identität heute noch verfolgt, ist homosexuelle Liebe strafbar und kann ein Kuss Gefahr bedeuten.“ Diese Betonung des liberalen Inkludierens queerer Menschen als Lackmustest der Demokratie ähnelt einigen nordamerikanischen homonationalistischen Narrativen, in denen Deutschland sogar als Beispiel für queere Politik gepriesen wird, die an eine „bewältigte“ Vergangenheit von Verfolgung und Vernichtung anknüpfe.
Queere Häretiker:innen
Dieser schwule Deutsche Katechismus ist auch dazu benutzt worden, eine antirassistische, intersektionale queere Wissenschaft zum Schweigen zu bringen – nicht zuletzt wegen pro-palästinensischer Positionen und ihren feministischen Beiträgen zur Gendertheorie, die schon als solche in deutschen akademischen Kreisen für Kontroversen gesorgt haben. Es war aber vor allem die nichtbinäre Philosophin und Aktivistin Judith Butler, die am meisten Feindseligkeit aus Kreisen des schwulen Mainstreams auf sich gezogen hat. Als Butler im Jahr 2010 am Christopher Street Day in Berlin den Zivilcourage-Preis mit dem Hinweis auf Rassismus innerhalb der queeren Community ablehnte, wurde sie für einen großen Teil der deutschen Linken zur persona non grata.
Mit der Ablehnung dieses Preises, der jährlich von Deutschlands größter CDS-Veranstaltung verliehen wird, wurden Butler und alle Anhänger:innen einer kritischen queeren Wissenschaft kurz darauf zum Mittelpunkt intensiver politischer Kampagnen innerhalb und außerhalb der deutschen Wissenschaft. Es wurde für schwule Chauvinisten ein Leichtes, kritische queere Wissenschaft abzulehnen, indem sie Butler als heidnische Gegenpriesterin zum Katechismus darstellten. Von Seiten des antideutschen Magazins Jungle World bis hin zu einer ganzen Reihe von Büchern des Querverlags wurde der Begriff „queer“ zu einem antisemitischen Schimpfnamen gemacht. Schlüsselbegriffe der internationalen Literatur um Homonationalismus und „Pinkwashing“ wurden innerhalb und außerhalb der deutschen Wissenschaft tabuisiert. Jasbir K. Puar, eine US-amerikanische Queer-Theoretikerin und Professorin für Women and Gender Studies an der Rutgers University, und andere wurden für ihre Arbeit zu postkolonialen Queer Studies und Islamophobie zu Ketzer:innen und Heid:innen erklärt.
Das hat queere und intersektionale Studien zur schwulen, lesbischen und trans* Geschichte Deutschlands ausgebremst, ganz zu schweigen davon, dass es die Aufmerksamkeit von den konkreten Erscheinungsweisen des Antisemitismus und der Islamophobie ablenkte, denen unzählige Juden und Jüdinnen, Muslime und Muslima im heutigen Deutschland ausgesetzt sind. Die Wiederholung des und der nationale Fokus auf das Evangelium haben die Grenze zwischen der Kritik an antisemitischen Praktiken in der queeren Geschichtsschreibung und der rhetorischen Verwendung essentialistischer Tropen zur Diskreditierung internationaler Wissenschaft verwischt. Mit anderen Worten, der Kern des Problems besteht nicht darin festzustellen, ob die Denunziation des Antisemitismus legitim ist oder nicht. Tatsächlich ist queere Wissenschaft, wie jede Wissenschaft, nicht immun gegen die Reproduktion von Unterdrückung und Machtstrukturen. Das Problem ist die Art und Weise, wie diese Kritik generalisiert und als eine Art Erbsünde für die queere progressive Theorie dargestellt wurde beziehungsweise so getan wird, als wäre antirassistische queere Theorie automatisch in Bezug auf Antisemitismus blind.
Cis, weiß und männlich
Mit dem Deutschen Katechismus als Waffe ist es schwulen Priestern nicht nur gelungen, queere und feministische Theorie zu verteufeln; vielmehr versuchen sie auch, antirassistische und postkoloniale Wissenschaft als Angriff auf das Zusammenleben darzustellen. Indem sie queere und antirassistische Kritik als antisemitischen Import darstellten, wurde es cis-schwulen weißen Männern in Deutschland möglich, diese Kritiken als irrelevant, ja als geradezu sündhaft abzutun. Nicht nur die Kritik am schwulen weißen Überlegenheitsanspruch, sondern besonders Studien zur Intersektionalität werden als eine Art nachträglicher Angriff auf eine frühere Zeit des Miteinanders jenseits von Kategorien und Identitäten dargestellt. Doch abgesehen davon, dass es in der queeren Community immer Kontroversen und Konflikte gab, basierte auch die Entstehung der Community selbst auf einer Geschichts- und Erinnerungsperspektive, die die heutige Inquisition durch den Katechismus nicht mehr überleben würde. Mit anderen Worten, die Verwendung des Deutschen Katechismus als Waffe hat es den weißen schwulen Stimmen erlaubt, historische und bis heute andauernde Spannungen innerhalb der queeren Communities in Deutschland schlicht zu ignorieren. Statt solche Spannungen ernst zu nehmen, behaupten sie, eine Art des Erinnerns und der queeren Politik zu verteidigen, die universell sei, die aber in Wirklichkeit cis, weiß und männlich ist.
Sich auf die historische Erinnerung und auf nationale Tugenden zu beziehen, um die Schuld auf die Unterdrückten zu schieben, ist etwas, das man üblicherweise am rechten Rand des politischen Spektrums sieht. Doch wenn sich Mitglieder der antideutschen „Linken“ in einer Kneipe in Berlin-Neukölln treffen, um über ein sogenanntes „Muslimproblem“ zu diskutieren, wenn internationale akademische Diskussionen über Homonationalismus ausgebuht werden, und wenn queere jüdische Stimmen von nicht-jüdischen Experten zum Schweigen gebracht werden, dann ist es an der Zeit, unser Verständnis von Antisemitismus und Rassismus in der queeren Community und in der queeren Wissenschaft zu überdenken – und sich nicht nur einem Gefühl des Stolzes auf die großen Errungenschaften der Vergangenheitsbewältigung hinzugeben. Daher ist die Intervention von Dirk Moses für unser Verständnis von queerem Aktivismus in Deutschland wichtig. Die deutsche Erinnerungskultur als eine Art Zivilreligion zu bezeichnen, ist fraglos provokativ; aber es gibt uns den Anstoß zu verstehen, dass soziale Bewegungen diese Zivilreligion zuweilen dazu benutzen, eine eigentlich notwendige Reflexion über Rassismus zu vermeiden.