Nach dem Urteil des US Supreme Court im vergangenen Juni, die Roe vs. Wade-Entscheidung von 1973 aufzuheben, treten in den USA vielerorts Abtreibungsverbote in Kraft, Kliniken müssen schließen, Rechtsstreite sind hängig. Doch es gerät Bewegung in die Debatte; die Demokraten hoffen nicht grundlos, mit dem Thema bei den Midterm-Wahlen im November Stimmen zu gewinnen. Denn Anfang August sorgte etwa der republikanisch geprägte Bundesstaat Kansas für eine Überraschung, als Stimmbürger:innen eine Verfassungsänderung ablehnten, die ein Abtreibungsverbot ermöglicht hätte; in weiteren Bundesstaaten stehen dieses Jahr ähnliche Abstimmungen an.
Zudem erinnern Karten der Vereinigten Staaten, die das aktuelle Abtreibungsrecht in den Bundesstaaten ausweisen, an einen Flickenteppich – die rechtliche Situation ist unübersichtlich. In Kansas bleiben zwar Abtreibungen in den ersten zweiundzwanzig Wochen einer Schwangerschaft legal, doch gibt es nur wenige Kliniken. Nachdem ein Richter ein nahezu vollständiges Verbot in Kentucky ausgesetzt hatte, beraumte das dortige Parlament eine Abstimmung im November an. In Idaho sind Klagen gegen restriktive Abtreibungsgesetze hängig. In Michigan verhinderte ein Richter, dass ein Verbot aus den 1930er Jahren umgesetzt wird; nun soll hier eine Abstimmung darüber stattfinden. In Vermont und Kalifornien wird im Herbst darüber abgestimmt, das Recht auf Abtreibung in der Verfassung zu verankern. Auch in Montana steht Abtreibung zur Abstimmung.
In gewisser Weise kehrt sich damit die Geschichte um. Über Jahre hinweg hatte das rechte Lager die Strategie verfolgt, Richter:innen zu befördern, die das Urteil Roe v. Wade von 1973 schwächen oder überstimmen wollten. Präsident Trump hatte während seiner Amtszeit schließlich die Möglichkeit, drei ausgesprochen konservative Richter:innen zu berufen und damit das Stimmgewicht auf lange Zeit stark nach rechts zu verschieben. Die Strategie hatte Erfolg; der US Supreme Court hat das Grundrecht auf Abtreibung widerrufen und die Frage wieder an die einzelstaatlichen Parlamente gereicht.
Gesetzlicher Flickenteppich um 1970
Doch Geschichte wiederholt sich nicht, die Zeit lässt sich nicht einfach zurückdrehen ins Jahr 1973, als in den Bundesstaaten unterschiedliche Abtreibungsgesetze galten. Auch damals bestanden Verbote, Ausnahmen oder sogar eine gewisse Wahlfreiheit. Während allerdings Anfang der 1970er Jahre die Reformbewegung zum Abtreibungsrecht in vollem Gange war, wollen heute christlich-konservative Politiker:innen bis ins 19. Jahrhundert zurückkehren, als die Abtreibungsverbote entstanden – mit allen Konsequenzen für von Verboten betroffene Frauen.
Anfang der 1970er Jahre bestanden in den Bundesstaaten sehr unterschiedliche, aber insgesamt sehr restriktive Regeln zur Abtreibung. Daher wurden die meisten Abbrüche von Schwangerschaften im Geheimen unter teilweise gefährlichen Bedingungen durchgeführt; Schätzungen über Zahlen reichten von ein paar hunderttausend bis zu über einer Million Schwangerschaften, die jährlich in den USA abgebrochen wurden.
Bis Ende der 1960er Jahre hatten aber Kalifornien, Colorado und North Carolina einige der Empfehlungen des American Law Institute umgesetzt; dessen Gesetzesvorschlag sah eine Reihe von Situationen vor, in denen der Abbruch einer Schwangerschaft legal sein solle. Dazu zählten Schwangerschaften, die das Leben der Mutter bedrohten, sowie solche, die durch Vergewaltigung entstanden waren. Maryland und Georgia planten ähnliche Gesetze. Einige Bundesstaaten gingen über solche Reformen sogar noch hinaus und gewährten die freie Entscheidung zu einer Abtreibung. So liberalisierten die Bundesstaaten Alaska, Hawaii, New York und Washington ab 1970 ihr Abtreibungsrecht.
New York legalisiert Abtreibungen
In den 1960er Jahren war in New York der Schutz des Lebens einer schwangeren Frau der einzige Grund für einen legalen Abbruch. Doch das Thema polarisierte schon damals. In einer Umfrage aus dem Januar 1968 sprachen sich über 80 Prozent der Befragten für eine Gesetzesänderung aus, rund 20 Prozent wollten den Status quo beibehalten. Ende der 1960er Jahre setzte Nelson Rockefeller, republikanischer Gouverneur von New York, eine Kommission zur Frage Reform des Abtreibungsrechts ein. Ihre Mitglieder wurden sich jedoch nicht einig. Ein Minderheitsbericht lehnte Reformen ab, da schon ein Fötus im frühen Stadium menschliches Leben sei. Ein Mehrheitsbericht sprach sich für Reformen des Abtreibungsrechts aus, wobei wiederum eine Minderheit dafür plädierte, dass Frauen auf Wunsch eine Schwangerschaft beenden dürften. Reformen hätten weitere Ausnahmen der Abtreibungsverbots etwa bei medizinischen oder psychologischen Indikationen bedeutet.
Schließlich liberalisierte das New Yorker Parlament im März 1970 das Abtreibungsrecht. Das Gesetz war aus medizinischer Sicht zwar ein Erfolg, da weniger Todesfälle in Verbindung mit einer Schwangerschaft zu verzeichnen waren, beruhigte aber den politischen Konflikt um die Abtreibungsfrage nicht. Zur erbitterten Gegnerschaft gehörte um 1970 hauptsächlich die katholische Kirche; politisch organisierten sich die Gegner:innen des liberalisierten Abtreibungsrechts sowohl in New York wie auch auf nationaler Ebene im Right to Life Committee. Das New Yorker Komitee kämpfte für die Umkehr der Gesetzesreform von 1970, der das Parlament 1972 sogar zustimmte – worauf aber Gouverneur Rockefeller ein Veto einlegte. Die Abtreibung blieb in New York bis zur 24. Woche unter Zustimmung einer Ärztin oder eines Arztes legal.
Organisationen wie Planned Parenthood, eine Non-Profit-Organisation, die 1942 aus der in den 1920er Jahren gegründeten Birth Control League of America hervorgegangen war, boten in New York insbesondere Beratungen zum Thema Verhütung an. Abtreibung hingegen war Neuland für Planned Parenthood. Der Bundesverband betrachtete den Bundesstaat New York daher als „Laboratorium“ und richtete dazu ein eigenes Programm ein. Ein bestehender Telefonservice zur Familienplanung, den die Organisation in Kooperation mit Behörden betrieb, beantwortete nun auch Fragen zur Abtreibung. Medizinische Dienste der Organisation boten unter anderem Überweisungen für Abtreibungen an; damals setzte sich mit der Absaugung per Vakuum auch ein medizinisch einfacher und sicherer Eingriff im Vergleich zum Ausschaben der Gebärmutter durch. Frühe Abtreibungen konnten so an speziellen Kliniken leicht durchgeführt werden. Planned Parenthood New York City selbst unterhielt dazu die „22nd Street Clinic“ (1973 umbenannt in „Margaret Sanger Center“, nach der Gründerin der Organisation).
Reisen für Abtreibungen damals und heute
Das Angebot in New York war auch für Bewohnerinnen anderer Bundesstaaten interessant. Bislang war für eine Abtreibung eine Reise nach Europa notwendig, was nur für Wohlhabende erschwinglich war, oder ein illegaler Eingriff unter meist schlechten medizinischen Bedingungen. Von nun an reichte eine Reise nach New York oder in Bundesstaaten mit ähnlicher Rechtslage, was für finanziell schwach gestellte Schichten allerdings immer noch einen erheblichen Aufwand bedeutete. Das Thema „Abtreibung“ hatte mithin nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine sozioökonomische Komponente – sie entschied mit über die Frage, wer über die Möglichkeit verfügte, eine Schwangerschaft zu beenden.
Im ersten Jahr nach der Liberalisierung gab es in New York geschätzte 168.000 Abtreibungen, wovon etwa 60 Prozent auf Patientinnen entfielen, die ihren Wohnsitz außerhalb des Bundesstaates gemeldet hatten. Der Großteil davon kam aus Nachbarstaaten, allen voran New Jersey, aber auch aus dem Mittleren Westen, Florida oder sogar aus Kanada. Der Abbruch einer Schwangerschaft konnte über den staatlichen Gesundheitsdienst Medicaid abgerechnet werden. Doch die New Yorker Verwaltung ließ dies ab Frühjahr 1971 nur noch zu, wenn zwingende medizinische Gründe für den Eingriff vorlagen.
Ähnlich wie damals setzt auch heute wieder eine verstärkte Reisetätigkeit für Abtreibungen ein – sofern Gesetzgeber nicht Wege finden, dies zu unterbinden. Beispielsweise behandeln Kliniken in Illinois Patientinnen aus dem benachbarten Wisconsin, wo Abtreibungen nahezu vollständig verboten sind. Dazu kooperieren die örtlichen Organisationen von Planned Parenthood, und das Personal pendelt zwischen den Bundesstaaten. Nach Illinois reisen auch Patientinnen aus Bundesstaaten wie Tennessee. Hier besteht ein Verbot für Abtreibungen nach etwa sechs Wochen Schwangerschaft, Ausnahmen bei Vergewaltigung oder Inzest sollen abgeschafft werden. In Texas, wo gerade ein restriktives Gesetz in Kraft getreten ist, überlegen Abtreibungsdienste, in das benachbarte New Mexico zu ziehen. Patientinnen aus Idaho, wo Abtreibungen kriminalisiert wurden, reisen vermehrt ins benachbarte Washington.
Roe vs. Wade als Meilenstein
Der disparaten Rechtslage zu Beginn der 1970er Jahre setzten die Richter – es waren nur Männer – am Obersten Gerichtshof 1973 ein Ende, als sie im Fall Roe v. Wade ein Gesetz aus Texas kassierten und das verfassungsmäßige Recht auf Privatsphäre auf Abtreibungen ausweiteten. Im parallelen Fall Doe v. Bolton fiel ein weniger restriktives Gesetz aus Georgia, das sich an Reformvorschlägen orientierte. Ein Präzedenzfall für das Recht auf Privatsphäre stammte aus der Mitte der 1960er Jahre, als die Richter Verbote von Verhütungsmitteln für nichtig erklärten (Griswold v. Connecticut).
Präsident Nixon kommentierte das Urteil zu Roe, das der von ihm nominierte Richter Blackmun verfasst hatte, nicht öffentlich. Sein Nachfolger Gerald Ford hingegen machte aus seiner persönlichen Ablehnung des Urteils keinen Hehl. Über die Jahre entwickelten die Republikaner die Ablehnung von Roe zu einem Markenkern. Doch das Urteil zu Roe wurde in mehreren Fällen von mehrheitlich konservativen Richterinnen und Richtern im Wesentlichen bestätigt, wie im Fall Planned Parenthood v. Casey von 1992. Die Urteile zu reproduktiven Rechten und deren Argumentation mit dem „Right to privacy“ bzw. „Substantative due process“ bildeten wichtige Präzedenzen, auf die sich Richter:innen in der Folge bezogen. Über die Jahre kippte der US Supreme Court in dieser Tradition 2003 gesetzliche Verbote von Homosexualität (Lawrence v. Texas) und legalisierte 2015 gleichgeschlechtliche Ehen (Obergefell v. Hodges).
Die Situation heute
Mit dem Urteil zu Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization haben die Richterinnen und Richter das Urteil zu Roe überstimmt. Wie verhält sich die Situation von damals zu heute? Damals wie heute halten nunmehr die einzelnen Bundesstaaten das Heft in der Hand und entscheiden per Gesetz, ob Frauen eine Schwangerschaft beenden dürfen. Damals wie heute resultieren daraus eine landesweit uneinheitliche Rechtslage und mancherorts Rechtsunsicherheit. Damals wie heute setzt eine verstärkte Reisetätigkeit ein, um den Eingriff vornehmen zu lassen. Damals wie heute entscheidet bisweilen der sozioökonomische Status über den Zugang zu einer Abtreibung.
Doch die politische Landschaft hat sich verändert. Die Antwort auf die Abtreibungsfrage hat sich entlang von Parteigrenzen verteilt und das Thema hat in den vergangenen fünfzig Jahren soziale Bewegungen hervorgerufen. Präsident Biden will – bei einem allfälligen Sieg der Demokraten bei den Midterms – mit einem bundesweiten Abtreibungsgesetz Roe gesetzlich verankern. Christlich-konservative Politiker:innen und Organisationen hingegen haben sich das kompromisslose „Nein“ zu Abtreibungen auf ihre Fahnen geschrieben. Der Ton ist schriller geworden. Längst sprechen Beobachter:innen von einer politischen und religiös-fundamentalistisch motivierten Kampagne, die den Supreme Court vereinnahmt hat und die auch die gleichgeschlechtliche Ehe angreifen will. Zwar beteuern konservative Richter:innen, dass das Abtreibungsrecht eine Ausnahme darstelle, und es sind noch keine konkreten Gesetze in Arbeit. Doch auszuschließen ist das nicht.