- Es gibt einen europäischen Trend zum rechten Tabubruch: In Ungarn und Polen sind bereits seit 2010 bzw. 2015 ultrarechte Regierungen an der Macht, in Italien regiert die Postfaschistin Giorgia Meloni im Bündnis mit konservativen Kräften – und auch bei den anstehenden Parlamentswahlen in Spanien stellt sich die Frage, wie lange sich die Volkspartei noch einem Bündnis mit den aufstrebenden Rechtsextremen von Vox verschließen will. Vor dem gleichen Problem könnte in Deutschland bei den kommenden Landtagswahlen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen im Frühjahr 2024 auch die ostdeutsche CDU stehen, deren Abgrenzung von der AfD mehr oder weniger offen zur Disposition steht. Wie lange kann sich der ungeschriebene cordon sanitaire der deutschen Politik noch halten?
Der Sperrgürtel entsteht
Mit dem Begriff des cordon sanitaire („Sperrgürtel“) bezeichnet die Politikwissenschaft seit den 1990er Jahren die Übereinkunft mehrerer politischer Parteien, auf die Zusammenarbeit mit einem bestimmten Wettbewerber zu verzichten und solche Bündnisse zu ächten. Seinen Ursprung hat der Begriff in Belgien, wo sich die im Parlament vertretenen Parteien im Jahr 1989 darauf einigten, den nationalistischen und rassistischen „Vlaams Blok“ bei der Regierungsbildung außen vor zu lassen und auch keine anderen politischen Bündnisse mit ihm einzugehen. Dass man für das Abkommen ein Bild aus dem Seuchenschutz wählte, macht die Idee dahinter deutlich: Indem man die Neuen politisch isolierte, sollte die sich ausbreitende Krankheit des antidemokratischen Rassismus eingehegt und das politische System geschützt werden, so die Vorstellung.
Das Beispiel machte Schule und fand zahlreiche Nachahmer in anderen europäischen Ländern, wenn auch gewöhnlich in Form einer ungeschriebenen Übereinkunft. Wo in den späten 1980er und in den 1990er Jahren rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien in die Parlamente kamen – in den Niederlanden, in Frankreich oder auf Landesebene in Deutschland (Republikaner, NPD und DVU) –, verständigten sich die politischen Führungen, die Neuen nicht in Koalitionen einzubinden.
Aber das war einmal, denn fast überall, wo sich Linke, Liberale und Konservative auf die Ausgrenzung rechter Flügelparteien einigten, ist diese Übereinkunft irgendwann umgangen oder aufgekündigt worden. In so unterschiedlichen Ländern wie Österreich und Finnland, Dänemark und Italien, in den Niederlanden und zuletzt in Schweden entschieden sich etablierte Parteien irgendwann, doch das Bündnis mit Rechtsaußen zu wagen. Die Gründe hierfür liegen, unter anderem, in einem strukturellen Problem: der „Sperrgürtel“ gegen rechts funktioniert vor allem dann, wenn er auf einem stabilen Wertekonsens basiert, der die politischen Positionen der äußeren Rechten ächtet – aber auch nur solange er einem der Akteure machtpolitisch nicht zu sehr schadet, indem er tatsächlich oder scheinbar die Konkurrenz bevorteilt. Und eine Schlüsselrolle spielen dabei die konservativen Parteien.
Vom Anti-Extremismus zum Rechtsbündnis
Einen Vorläufer haben die geschriebenen und meist ungeschriebenen Bündnisse gegen Rechtsaußen im Anti-Extremismus der Nachkriegsjahrzehnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg und mit dem Beginn des Ost-West-Konflikts erklärten sich die Europäerinnen und Europäer im liberalen Westen des Kontinents zu Demokraten der Mitte und wählten mit Vorliebe eine der gemäßigten Integrationsparteien konservativer, liberaler und sozialdemokratischer Couleur. Diese erkannten sich gegenseitig als demokratische Parteien an und schlossen einen Machtkompromiss, der „extremistische“ Konkurrenten von der politischen Herrschaft ausschließen und diese in der Mitte des politischen Spektrums konzentrieren sollte: weder Kommunisten noch Rechtsextreme sollten Einfluss auf das Regierungshandeln erhalten, Bündnisse mit ihnen wurden tabu. Die Übereinkunft gegen Links- und Rechtsaußen überlebte den Kalten Krieg aber vielerorts nicht. Mit dem Verschwinden kommunistischer Parteien oder ihrer schrittweisen Liberalisierung wurde die Abgrenzung nach links vielfach hinfällig – und die Abgrenzung nach rechts folgte, aus ganz anderen Gründen, schon bald.
Das beste Beispiel ist Italien, wo sich in den Nachkriegsjahrzehnten ein Mehrparteienkartell gegen Kommunisten und Neofaschisten gebildet hatte. Da es der katholischen Democrazia Cristiana auf Dauer die Macht sicherte, wurde es von konservativen Kräften genauso getragen, wie von liberalen – aber nur solange diese machtpolitische Voraussetzung erfüllt blieb. Denn mit dem Weg der Kommunisten in die politische Mitte, den Korruptionsskandalen der Christdemokraten und der Auflösung des alten Parteiensystems drohten die bürgerlichen Eliten erstmals in der Nachkriegszeit, die Macht an eine neue Mitte-Links-Koalition zu verlieren. Zeitgleich begann der populistische Siegeszug des Unternehmers Silvio Berlusconi und der norditalienischen Bürgerbewegung Lega Nord, die das Vakuum der alten DC auszufüllen gedachten. 1994 standen sich dann zwei Machtblöcke gegenüber, deren rechter Teil es sich nicht mehr leisten wollte, den Pakt gegen den Faschismus aufrecht zu erhalten: Um eine Regierung der Linken zu verhindern, ließen sich Berlusconi und die Lega vom „Postfaschisten“ Gianfranco Fini zur Macht verhelfen – und trugen damit den Abgrenzungskonsens der alten Republik zu Grabe, der ihnen nicht mehr dienlich war.
Repräsentierte Fini noch das Erbe des alten Faschismus in Europa, so war die Lega bereits Vertreterin einer neuen Rechten, die sich in ein anderes, populäreres Gewand hüllte und in den 1980er und 1990er Jahren Erfolge feierte. Zum Teil aus dem Steuerprotest radikalisierter Bürger (so in Norwegen und Dänemark), zum Teil aus separatistischen Bewegungen (in Flandern oder Norditalien) oder aus traditionellen nationalistischen Milieus (so in Österreich oder Frankreich) hervorgegangen, fand die neue populistische Rechte eine gemeinsame Plattform im Kampf gegen vermeintlich linke Eliten und angeblich kriminelle Einwanderer. Sie bediente sich einer, zum Teil linker Protestkultur entlehnten Sprache, die sie aus Sicht der Etablierten zu einer Gefahr für das politische System werden ließ – zumal sie deren Macht herausforderte. Diese reagierten sichtlich irritiert: Während die neuen Wettbewerber zunächst für nicht-kooperationsfähig erklärt wurden, reüssierten sie munter weiter und streuten so Zweifel an der Zweckmäßigkeit ihrer Ausgrenzung – vor allem bei Konservativen, die sich zunehmend zwischen rechtem Rand und konkurrierenden Mitte-Links-Bündnissen eingesperrt fühlten.
Gegen die linksliberale Vorherrschaft
Diese Konstellation gehört zur oft übersehenen Vorgeschichte konservativer Tabubrüche in Europa: Denn nach dem Ende des Kalten Kriegs hatten linke und liberale Kräfte im Zeichen der „Neuen Mitte“ und des „Third Way“ (Anthony Giddens) zwischen Sozialismus und Neoliberalismus ein pragmatisches Bündnis geschlossen, das die traditionellen Mitte-Rechts-Kräfte zu marginalisieren drohte und eine zeitweilige linksliberale Vorherrschaft in Europa begründete: Wim Koks „Paars“-Regierung in den Niederlanden (1994-2002), die „rot-grüne“ Koalition in Deutschland (1998-2005) und das italienische „Ulivo“-Bündnis um Romano Prodi (1996-2001) sind nur die bekanntesten Beispiele einer punktuellen, aber transnationalen Allianz, deren politisches Programm erst im Nachhinein mit dem Begriff des „progressiven Neoliberalismus“ belegt wurde: Wirtschaftspolitisch drohten Schröder und Co. die Konservativen überflüssig zu machen, indem sie deren Politik der Privatisierungen und Sozialstaatsreformen umsetzten. Gesellschaftspolitisch aber standen ihre Regierungen für eine progressivere Politik, die sich in neuen Einwanderungsgesetzen, mehr Rechten für Frauen oder gleichgeschlechtliche Paare und neuen umweltpolitischen Maßnahmen äußerten – eine Mischung, die um die Jahrtausendwende relativ erfolgreich war und nahezu überall in der EU sozialdemokratische oder liberale Regierungen an die Macht brachte.
Für Konservative wurden die neuen linksliberalen Bündnisse und ihre Erfolge zur Bedrohung. Schon damals, um die Jahrtausendwende, fühlten sich viele von ihnen durch einen neuen progressiven Zeitgeist herausgefordert und fürchteten ihre Entmachtung, und wie heute reagierten sie mit hilfloser Radikalisierung: Während deutsche CDU-Wahlkämpfer in den Jahren 1999 und 2000 mit Unterschriftenkampagnen gegen die doppelte Staatsbürgerschaft oder Slogans wie „Kinder statt Inder“ auf Stimmenfang gingen, um wieder in die Offensive zu kommen, kündigten ihre Parteifreunde im Ausland kurzerhand den cordon sanitaire gegen Rechtsaußen auf, um wieder Oberhand zu gewinnen. Nach Berlusconis Tabubruch in Italien folgte 1999 die Österreichische Volkspartei (ÖVP), die nach Jahren sozialdemokratischer Kanzlerschaft und rechtspopulistischer Wahlerfolge auf den dritten Platz bei der Nationalratswahl abgerutscht war. Um sich trotzdem den Ballhausplatz zu sichern, schloss sie das erste „schwarz-blaue“ Bündnis mit Jörg Haiders FPÖ. Es sorgte europaweit für Furore und schuf einen weiteren Präzedenzfall. Die rechtsliberale Venstre in Dänemark machte es 2001 nach und holte sich die populistische Dansk Folkeparti ins Boot. Gemeinsam verschärften sie Dänemarks Einwanderungsrecht und verstärkten einen islamkritischen und einwanderungsfeindlichen Diskurs, der bis heute nachhallt. In der Schweiz war die SVP ohnehin von jeher Teil des Bundesrats und sicherte eine konservativ-bürgerliche Vorherrschaft. Und auch in Teilen Deutschlands (Hamburg 2001) und den Niederlanden (2002) waren Christdemokraten und Rechtsliberale um die Jahrtausendwende bereit, sich im Bündnis mit Rechtspopulisten an die Macht wählen zu lassen, um rotgrüne und sozialliberale Koalitionen zu verdrängen.
Konservative Radikalisierung
Geschichte wiederholt sich nicht. Historische Muster können aber wahrscheinlichere und unwahrscheinlichere Szenarien abbilden und so politisches Handeln informieren. Und diese Muster sind in den vergangenen Jahrzehnten europaweit mehr als deutlich zu erkennen: Wo sich konservative Kräfte durch vermeintliche oder echte linksliberale Mehrheiten bedroht fühlten und wo sie machtpolitisch Alternativen im Bündnis mit Rechtsaußen hatten, waren sie früher oder später geneigt, den Tabubruch und das rechte Experiment zu wagen. Zuletzt gesehen in Schweden, wo sich der cordon sanitaire gegen die äußere Rechte mit am Längsten gehalten hatte. Mit dem Einzug der nationalistischen Sverigedemokraterna (Schwedendemokraten) ins Parlament aber begann 2010 eine Dynamik, die zuletzt in deren Aufwertung zum Königsmacher resultierte: Nach Jahren sozialdemokratischer Minderheitsregierung im Bündnis mit linken, grünen und liberalen Kräften bot der Pakt mit Rechtsaußen den konservativen „Moderaten“ und „Liberalen“ die Chance, wieder gemeinsam an die Macht zu kommen. Dass sich vor allem die „Moderaten“ im Vorfeld selbst radikalisiert und den Positionen der Schwedendemokraten angenähert hatten, nicht zuletzt in der Asyl- und Zuwanderungspolitik, half dem neuen Bündnis zusätzlich, konnte man sich doch auf inhaltliche Gemeinsamkeiten stützen.
Dies verweist auf ein weiteres Muster konservativer Tabubrüche: Die Existenz rechter Konkurrenzparteien verleitet konservative Kräfte häufig dazu, sich ihrerseits zu radikalisieren: Im Irrglauben, den Nationalisten so das Wasser abzugraben, passen Konservative Stück für Stück ihre Positionen und ihre Sprache an, übernehmen rechtspopulistische Themen und Schlagworte – und schaffen damit nicht nur neuen Resonanzraum für extreme Positionen, sondern auch eine ideologische Grundlage für rechte Kooperationen. Auch wenn sie dies zunächst noch ausschließen und davon sprechen, rechte Wähler für die politische Mitte zurückgewinnen zu wollen, so erscheint die Zusammenarbeit jenseits dieser Mitte ihren Mitgliedern und Funktionären irgendwann als die sinnvollere, weil programmatisch kohärentere und attraktivere Option – besser als ein heterogenes Bündnis mit Linken und Gesellschaftsliberalen, mit denen man kaum mehr etwas gemein zu haben scheint. Lieber mit Rechtsaußen gegen „Gendergaga“, „Überfremdung“ und „linksgrüne Eliten“, als diese Politik selbst mit zu betreiben, so die Losung.
Zurück zum cordon sanitaire?
Das ausgegebene Ziel – die Rechtspopulisten nachhaltig schwächen und überflüssig zu machen – ist Europas Konservativen nirgendwo gelungen. Stattdessen ist die rechts-rechte Option vielfach zu einem Koalitionsmodell unter mehreren geworden. Dabei gibt es auch Alternativen und das Regieren mit rechts ist nicht überall zur neuen Norm geworden. In Belgien, dem Mutterland des cordon sanitaire, gab es immer wieder Versuche einzelner Akteure, die Übereinkunft gegen den Vlaams Blok (heute Vlaams Belang) für überholt zu erklären, zuletzt nach der flämischen Regionalwahl 2019. Bis heute aber waren die politischen Parteien eher bereit, in schwierigen Verhandlungen heterogene Mehrparteienkoalitionen zu bilden, als den Konsens aufzukündigen, dass die äußere Rechte eine Bedrohung für die belgische Demokratie darstellt. Im Nachbarland, den Niederlanden, dagegen wagten Christdemokraten und Rechtsliberale gleich zweimal, 2002 mit der Liste Pim Fortuyn, 2010 mit Geert Wilders, das Bündnis mit rechten Populisten, ernteten aber beide Male vor allem Chaos und Instabilität. Sie kehrten daraufhin zum Bündnis der Mitte zurück, das mehr Sicherheit und Berechenbarkeit versprach. Hollands Konservative regierten seither mal mit Sozialdemokraten, mal mit Linksliberalen – und fuhren damit deutlich besser als mit den exzentrischen Populisten vom rechten Rand.
Die Beispiele zeigen: Auch im modernen Vielparteien-Parlamentarismus gibt es tragfähige Alternativen zum Rechts-Pakt, sofern die Akteure auf allen Seiten zu Konzessionen bereit sind. Selbst wenn starke Populisten im Parlament und außerhalb Stimmung machen und die Agenda zu diktieren suchen – sie müssen damit noch lange nicht erfolgreich sein. Schließlich sind auch historische Muster keine Naturgesetze. Am Ende steht die freie Entscheidung politisch Verantwortlicher, welchen Weg sie gehen wollen. Europas Konservative sollten sich daher mehrmals überlegen, ob sie sich mit Faschisten und Rechtsextremen verbünden – oder ob es Zeit für einen neuen cordon sanitaire ist.
Man kann das auch andersherum sehen. Mt der Öffnung sozialdemokratischer Kreise zu einer sozial neoliberalen Politik (Deutschland: Schröder-Fischer) wurde besitzlosen BürgerInnen der unteren Gesellschaftshälte ihre politische Identität und soziale Hoffnung genommen. Derart schutzlos, wurden neue geopolitische Entwicklungen wie die zunehmende Mitgration nach Europa als zusätzliche existentielle Gefahr wahrgenommen. Für das neue rechte Lager war das Wasser auf ihre Mühlen. Eine moralistische Gegenwehr wird da nicht helfen. Nur eine Umkehr zur sozialer Politik.