Jule Govrin: Spätestens seit den Black Lives Matters-Protesten 2020 sind abolitionistische Ansätze im Gespräch, vor allem in den USA, aber auch hier, nicht zuletzt durch Euren letztes Jahr erschienenen Reader zum Abolitionismus. Was sind die Grundzüge abolitionistischer Praktiken, Politiken und Theorien, die sich von der Geschichte der Widerstände gegen Versklavung bis in die Gegenwart des Aufbegehrens gegen Polizeigewalt ziehen?
Vanessa E. Thompson: Abolitionistische Theorien und Praktiken gab es schon lange vor 2020. Abolitionismus – ursprünglich als Kampf gegen die Sklaverei – ist vor allem als transnationale Bewegung zu verstehen. Das war schon zu Zeiten der Haitianischen Revolution zwischen 1791 und 1804 so. Einige heutige Abolitionist*innen beziehen sich daher auf diesen frühen Abolitionismus als eine der ersten globalen Bewegungen der Moderne. Zugleich gingen die Kämpfe gegen den Plantagenkapitalismus natürlich historisch weiter zurück. Der Historiker, Kulturkritiker und marxistische Theoretiker C. L.R. James diskutierte in seinem Buch über die Haitianische Revolution die Widerstände auf den Sklavenschiffen oder die Rebellionen auf den Plantagen. Wichtig ist zu erwähnen, dass diese Rebellionen und die Haitianische Revolution auch in Europa ein Echo produziert haben, die Zuckerstreiks oder die Streiks von Textilarbeiter*innen sind dafür ein gutes Beispiel.
JG: Was verbindet nun alle diese Formen von Abolitionismus bis heute?
VT: Abolition war nie nur auf einen nationalen Kontext bezogen oder auf die Plantagen, die konstitutiv waren für die kapitalistische Entwicklung, begrenzt. Ein wesentlicher Grundzug des Abolitionismus ist, dass es ihm generell um die Abschaffung von gesellschaftlichen Verhältnissen, von Produktions- und Beziehungsweisen geht, die die Versklavung und andere Formen mehr oder weniger unfreier Arbeit als Überausbeutung sowie Ausbeutung überhaupt erst ermöglichen. Der Begriff meint mithin eine Form der Kapitalismuskritik, die direkte Formen von Gewalt als andauernd und konstitutiv anstatt als exzeptionell und untypisch für die kapitalistische Produktionsweise in den Blick nimmt. Zugleich aber geht es ihm um die Entwicklung von Alternativen zu kapitalistischen Produktions- und Beziehungsweisen im Hier und Jetzt – „building socialism from the ground“, wie Ruth Wilson Gilmore das nennt.
JG: Neben diesen geteilten Grundzügen, wie unterscheiden sich abolitionistische Ansätze in Geschichte und Gegenwart?
Daniel Loick: Wir werden häufiger gefragt: Warum sollen wir jetzt den Begriff Abolitionismus benutzen, was ist der Unterschied zu Anarchismus oder Kommunismus? In der Tat gibt es zu diesen Bewegungen große Überschneidungen, wobei gesagt werden muss, dass „der Abolitionismus” selbst sehr heterogen ist: Einige Ansätze sehen sich eher in einer kommunistischen, andere eher in einer anarchistischen, wieder andere eher in einer sozialistischen Tradition. Es gibt aber eben Merkmale, die abolitionistische Praktiken spezifisch ausmacht. Ich würde sagen, dazu gehört erstens die von Vanessa angesprochene Doppelbewegung von Negation und Konstitution, zweitens eine Sensibilität für das Zusammenspiel des Kapitalismus mit Formen rassistischer Nekropolitik – wie beim buchstäblichen und bewusst kalkulierten Verschleiß schwarzer Menschen auf den Plantagen, aber auch in Form von Polizeigewalt oder der Gewalt des Grenzregimes – sowie patriarchaler Unterdrückung, und drittens eine starke Kritik an den Gefahren einer bloß reformistischen Politik.
VT: Die Koordinaten haben sich etwas verschoben, denn abolitionistische Kämpfe stehen nicht außerhalb politischer und ökonomischer Konjunkturen. Seit den 1970er Jahren haben sie sich zuerst auf Gefängnisse und die Polizei konzerniert und später dann auch auf Grenzen und Lager. Das hängt mit dem neoliberalen Strukturwandel zusammen, denn dies sind Kristallisationspunkte der neoliberalen Geographien von „surplus populations”, von Überschussbevölkerungen, der Produktion von „Unbrauchbaren“. Das bedeutet natürlich nicht, dass Überausbeutung, die immer schon mit Formen des Rassismus operierte, keine Rolle mehr spielt. Zugleich ist die Klasse der für den Kapitalismus „Unbrauchbaren“ in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen. „Überflüssigkeit“ oder „Unbrauchbarkeit“ bedeutet, dass Menschen für das Kapital keinerlei Wert mehr darstellen, weder als Arbeiter*innen, noch als Konsument*innen oder als Reservearmee – und damit als „unbrauchbar“ und „killable” aussortiert und verwahrt werden. Abolitionistische Theorien und Praktiken formulieren eine radikale Gesellschaftskritik über das Lohnarbeitsverhältnis hinaus; sie zeigen, wie Rassismus als „staatlich sanktionierte oder extra-legale Produktion und Ausbeutung von gruppenbezogener Differenz zu frühzeitigen Toden führt”, wie Ruth Wilson Gilmore sagt, diese Verhältnisse durchzieht.
JG: Wie sind diese Konzepte auch in Europa wichtig geworden?
VT: In Europa haben abolitionistische Theorien und Praktiken durch die weltweiten Rebellionen für schwarze Leben nach der Ermordung von George Floyd und Breonna Taylor neue Aufmerksamkeit erlangt. Aber es gab schon vorher in Europa und in Deutschland eine Tradition der Gefängniskritik und Polizeikritik. Sie setzt an einer historischen Konjunktur der staatlichen Zerschlagung der radikalen Kämpfe in den 1960er und 1970er Jahren sowie an einem neoliberalen und karzeralen Umbau des Staates, in dem die Verwahrung von Armut und die Kriminalisierung von Migration der produzierten „Unterklassen” eklatant zunimmt. Seit den 1980er Jahren lassen sich vor allem Kämpfe gegen Lager und Grenzen beobachten, die deren Abschaffung, eben deren Abolition fordern.
DL: Es ist klar, dass sich eine Bewegung verändert, wenn die Wirklichkeit ihr andere Aufgaben stellt. Wie Vanessa würde ich sagen, dass der Kampf gegen Grenzen und Lager heute zentral ist. Es wird bis 2050 1,2 Milliarden climate refugees geben. Wir sehen schon jetzt, dass Staaten auf die Mobilität von Migrant*innen nur mit Internierung und Sterbenlassen reagieren können. Hier drängt sich der Abolitionismus als einzig realistische Alternative auf: Es wird nicht anders gehen als ganz andere Institutionen der politischen Selbstregierung, Zugehörigkeit und Mitgliedschaft zu erfinden. Auch die ökologische Zerstörung zeigt die Dringlichkeit einer abolitionistischen Kritik auf: Der Abolitionismus ist der einzige Ansatz, der den Anteil staatlicher und karzeraler Gewalten, die in kolonialen Traditionen stehen, in die Kritik mit einbeziehen.
JG: Ruth Wilson Gilmore betont ja die ökonomische Dimension von Inhaftierungspraktiken, als staatliche Reaktion auf kapitalistische Krisen. Die Subventionen für Gefängnisbau nehmen zu, während Einrichtungen wie Frauenhäuser, die Antigewaltarbeit leisten, Gelder gestrichen werden. Zu fordern, diese Gelder zugunsten von community-basierten Initiativen umzuschichten, scheint sinnvoll. Doch wenn solche Ansätze Communityarbeit gezielt am Staat vorbei organisieren, folgen sie nicht unwillentlich neoliberaler Sparpolitik, die die Sorge von staatlichen Strukturen ins Private auslagern? Und wenn ja, wie können sie dem entgegenwirken?
DL: Diese Gefahr, dass community-basierte Lösungen zum Lückenbüßer für Sozialstaatsabbau werden können, gibt es sicherlich. Das ist ein politisches Paradox, mit dem radikal transformative Politik immer umgehen muss: Die Arbeiter*innen streiken für höhere Löhne, aber genau das macht sie für den Kapitalismus auch besser ausbeutbar. Graswurzelinitiativen organisieren Suppenküchen auf Lesbos, tragen dabei aber auch zur Aufrechterhaltung des Lagersystems bei. Die Rettung von Geflüchteten auf dem Mittelmeer läuft Gefahr, den Rückzug des Staates von der Aufgabe der Seenotrettung zu legitimieren. Aber soll man aufgrund dieser Gefahren solche Aktivitäten unterlassen? Es müsste doch eher darum gehen, sie radikal auszuweiten, damit community-basierte Lösungen eine stabile und verlässliche Alternative zum disziplinierenden Sozialstaat darstellen können.
VT: Ich denke, dass die durchaus berechtigte Kritik am community-Kapitalismus das Potential abolitionistischer Kämpfe etwas verkennt. Es ging nie um eine Privatisierung der Sorge(arbeit), sondern um eine gesellschaftliche Erprobung der Möglichkeiten von sozialistischen Infrastrukturen. Auch gegenwärtige abolitionistische Projekte wie Transformative Justice haben eine Doppelbewegung. Es geht einerseits um die Mobilisierung von caring communities, von Praktiken der Unterstützung vor allem für marginalisierte communities wie Geflüchtete, geschlechtlich marginalisierte und verarmte Gruppen. Gleichzeitig geht es um den Aufbau von Gegen-Macht und den Kampf um staatliche Infrastrukturen. Denken wir an die Black Panthers: Die Selbst-Organisierung von free breakfast programs und von community health centres war nicht einfach charity. Der karzerale Staat soll zurückgedrängt und sorgende Infrastrukturen sollten aufgebaut werden. Auch im Aids-Aktivismus ging es ja nicht darum den Staat einfach zu entlasten. Das ist kein Entweder/Oder. Die Kämpfe für sozialen Wohnungsbau für nicht-privatisierte Gesundheitsversorgung, für öffentlich zugängliche Bildung und für höhere Löhne sowie die Entlohnung von Care-Arbeit und Bewegungsfreiheit sind Teil dieser Kämpfe.
Ich sehe das Problem einiger defund-Kampagnen, wie defund the police – also Re-investition in soziale gesellschaftliche Infrastrukturen – eher woanders, nämlich in dem latenten methodologischen Nationalismus. Gurminder Bhambra und andere dekoloniale Forscher*innen des Wohlfahrtskapitalismus haben gezeigt, dass der Wohlfahrtskapitalismus stets auf der Unterscheidung zwischen den deserving und undeserving poor angewiesen war, außerdem ist der Wohlfahrtskapitalismus selbst auf die andauernde Akkumulation durch Enteignung in den kolonialen oder neo-kolonialen sogenannten Peripherien angewiesen. Das bedeutet, dass wir keine Kämpfe um staatliche Infrastrukturen kämpfen können, ohne nicht die globale, vor allem vergeschlechtlichte, Arbeitsteilung in den Blick zu nehmen. Hier muss sich der Abolitionismus wieder stärker internationalisieren. Es darf niemals nur um die staatliche Umverteilung von Ressourcen gehen, sondern um die internationale Umverteilung und radikale Vergesellschaftung.
JG: Diese transnationale Dimension abolitionistischer Kämpfe schließt an ihre Transversalität an, die Du, Vanessa, angedeutet hast. Welche transversalen Linien lassen sich zu anderen sozialen Kämpfen ziehen, etwa Kämpfe gegen extraktivistische Enteignung – die schonungslose Ausbeutung von natürlichen Ressourcen – oder die feministische Streikbewegung? Wird hier ein erweiterter Gewaltbegriff wichtig, der sichtbar macht, wie ökonomische und staatliche Gewalt, rassistische und geschlechterbasierte Gewalt zusammenwirkt? Ebenso wie ein Gedanke der differentiellen Ausbeutung, wie ich es nennen würde, der Ausbeutung entlang der Achsen internationalen und vergeschlechtlichen Arbeitsteilung begreift?
VT: Ich würde Abolitionismus nicht auf staatliche Gewalt reduzieren, es geht vielmehr um die Verschränkungen von Gewalt als Methode des globalen Systems. Versklavung ist auch eine Form der ökonomischen Gewalt und die Frage der Reproduktion des Plantagenverhältnisses ist ohne systematische vergeschlechtlichte und sexualisierte Gewalt nicht zu denken. Es waren vor allem Third World feminists, die den Zusammenhang zwischen interpersoneller geschlechtsspezifischer Gewalt und struktureller geschlechterbasierten Gewalt im kolonialen Kapitalismus hervorgehoben haben. Diese Kritik findet sich beispielsweise in der Mütterbewegung in Brasilien, die Fragen von der Produktion von surplus populations mit rassistischen Strukturen, urbaner Verwertung und Verdrängung, Landnahme, vergeschlechtlichter Überausbeutung und Verschuldung verbinden. Aus abolitionistisch-feministischer Perspektive finde ich spannend, dass die Frage der Staats- und Grenzgewalt gerade in den Teilen der schwarzen und dritte Welt Frauenorganisationen der Wages for Housewives-Kampagne eine wesentliche Rolle gespielt haben. Migrantische feministische Selbstorganisierung, auch in Deutschland oder wie bei Women in Exile, betont, wie Klimazerstörung, Extraktivismus, Kriegskapitalismus und die vergeschlechtlichte Arbeitsteilung durch staatliche Gewalt und Grenzgewalt forciert und vermittelt werden.
JG: Was wären da weitere konkrete Kämpfe?
VT: In anti-kolonialen Kämpfen hat Extraktivismus immer eine große Rolle gespielt, da Kolonialismus schlecht ohne die Aneignung von Land und Zerstörung von nicht-menschlichen Umwelten operieren kann. Das hat Fanon gezeigt. Das sehen wir in abolitionistischen Kämpfen von Südafrika bis zu den indigene Kämpfen der land defenders in Turtle Island oder der Umweltaktivist*innen in Kolumbien. Die eklatante Kriminalisierung des Klimaaktivismus, die wir gerade in Deutschland und Europa erleben, ist aus diesen Perspektiven alles andere als neu, auch wenn die Konjunkturen andere sind. Was in Europa oft ‚zusammengedacht’ werden muss, ist in den sogenannten kapitalistischen Peripherien sowieso oft unvermittelter verbunden. Ich denke, wichtiger ist die Frage, wie wir abolitionistische Kämpfe international wieder stärker in Beziehung setzen können, mit dem Wissen, dass nicht alle diese Kämpfe unter diese Begriff firmieren. Ich verstehe Abolitionismus als eine neue Form des radikalen Internationalismus „von unten”.
DL: Die Verschränkung unterschiedlicher Gewaltdimensionen, die einen umfassenden und international ausgerichteten Ansatz nötig machen, können wir auch anhand konkreter Ereignisse vor Ort aufschlüsseln. So haben wir in unserer Analyse zu den Polizeimorden im August 2022 für einen multidimensionalen Gewaltbegriff plädiert. Wir sehen das zum Beispiel am Mord an Mohamed Dramé in Dortmund am 8. August 2022. Es gibt zum einen die direkte Polizeigewalt, durch die Schüsse aus den Maschinenpistolen der Polizisten. Diese ist eingebettet in eine grundlegendere Gewalt der organisierten Vernachlässigung: Mohamed befand sich in einer psychischen Krisensituation und hatte mehrfach versucht, psychologische Hilfe zu bekommen, wurde aber abgewiesen – auch dieses Vorenthalten von Sorge-Ressourcen ist eine Form der Gewalt. Mohamed war außerdem Refugee, er war Opfer der Gewalt des Grenzregimes und des Kolonialismus. All diese Formen müssen wir zusammendenken, um eine gute Analyse des racial capitalism, aber auch eine gute Gegenstrategie finden wollen.
JG: In dieser Hinsicht ist das überzeugend. Allerdings erscheinen Ansätze der transformativen Gerechtigkeit auch risikoreich, besonders wenn sie Beziehungsgewalt durch community-Ansätze statt Strafen behandeln wollen. Bergen die Versöhnungs- und Heilungsideale (healing), die dort mitschwingen, nicht die Gefahr, einen Kohäsionszwang des Gemeinschaftliche und die Gefühle der Gewaltausübenden über die Gewaltbetroffenen zu stellen?
DL: Es gibt sicherlich unzählige Probleme bei Transformative Justice-Ansätzen, die sich ja selbst als Experimente und nicht als fertige Rezepte verstehen: Oft lähmt die Arbeit mit gewaltausübenden Personen ganze Strukturen über Jahre hinweg, Arbeit, die häufig wiederum von Frauen, trans und queeren Menschen gemacht wird. Auch konzeptuell finde ich nicht alles überzeugend, insbesondere wenn auf Werte wie Liebe Bezug genommen wird. Aber dass die Gefühle der Gewaltausübenden über die der Betroffenen gestellt werden, würde ich so nicht sehen – der Ausgangspunkt der Entwicklung dieser Modelle war ja, dass karzerale „Lösungen” die Bedürfnisse der Betroffenen nicht ernstgenommen haben, dass sie sie vielmehr entmächtigt und in eine passive Rolle gesetzt oder sogar selbst kriminalisiert haben. Transformative Justice nimmt seinen Ausgangspunkt bei den konkreten Bedürfnissen von Betroffenen, die häufig komplexer sind als nur die Bestrafung, wie sichere Räume, Kinderbetreuung, Wohnen, finanzielle Absicherung, etc. Welche Maßnahmen sind nötig, damit sie nach einer traumatischen Erfahrung wieder eine Handlungsfähigkeit entwickeln können? Und das schließt oft eben eine Verantwortungsübernahme und Verhaltensänderung der gewaltausübenden Person ein – etwas, das von Praktiken, die nur auf Ausschluss und Isolation setzen, nicht erreicht werden kann.
JG: Das muss aber auch bedeuten, getrennte Räume zu ermöglichen, wenn das Bedürfnis von Betroffenen darin besteht, dass sich die gewaltausübende Person eben nicht mehr in den geteilten gemeinschaftlichen Räumen aufhält. – Doch wir sollten noch einige praktische Beispiele für abolitionistische Arbeit beleuchten, wie die Initiative Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt, KOP Berlin, Wrangelkiez United oder die Bildungsinitiative Ferhat Unvar, gegründet von den Angehörigen der in Hanau ermordeten Menschen.
VT: Die Arbeit von Women in Exile, die seit nunmehr mehr als zwanzig Jahren existieren, macht seit Beginn deutlich: abolish lagers and borders! Die no-border Bewegung in Europa hatte immer eine abolitionistische Dimension, zumindest die radikaleren Teile, die einen liberalen Humanitarismus zurückweisen. Bei polizeikritischen Gruppen sehe ich diese Dimension auch, zumindest bei denjenigen, die Polizeigewalt als konstitutiv für die kapitalistische Eigentumsordnung begreifen und damit nicht einfach für eine Reform der Polizei entstehen, sondern für deren Abschaffung als Bestandteil einer radikalen gesellschaftlichen Transformation. Kämpfe gegen Polizieren sind ein wesentlicher Kristallisationspunkt, das sehen wir an den Rebellionen in Paris, der Organisierung um den Görlitzer Park sowie um Schwimmbäder in Kreuzberg oder Neukölln. Ich würde da aber nicht jede anti-rassistische Initiative dazu zählen. Es gibt gerade seit den letzten zwanzig Jahren einen neoliberalen Anti-Rassismus, der sich bequem in die bestehende Ordnung und die Logik der Individualisierung eingliedern lässt.
Viele unabhängige Kommissionen oder auch Recherchegruppen machen oft wichtige Arbeit, und wissen zugleich um die krassen Grenzen des liberalen Rechts. Daraus ergibt sich ein eher strategischer Umgang. Die Initiative im Gedenken an Oury Jalloh führt Rechtskämpfe auch als Organisierungsstrategie und zur Entlarvung der rassistischen Klassenjustiz. Abolitionismus bewegt sich im Spannungsfeld der radikalen Kritik des liberalen Humanismus und der Mobilisierung von abolitionistischen radikalen Alternativen. Dabei wird zum Recht oft ein instrumenteller Umgang entwickelt. Auch der Unterschied zwischen nicht-reformerischen und reformistischen Reformen spielt hier eine Rolle.
JG: Vor dem Hintergrund meiner Forschung zum Universalismus von unten und einer radikalen, relationalen Gleichheit zum Schluss noch eine philosophischere Frage: Zeigt sich in abolitionistischen Bewegungen eine Gleichheit als prekäre, brüchige Praxis, die sich davon abwendet, das Recht als egalisierendes Element zu begreifen, sondern auf der Vielfalt von Standpunkten, grundlegender Verbundenheit und geteilter Sorge aufbaut?
DL: Die Gewalt, gegen die sich abolitionistische Strategien richten, erschöpft sich nicht in äußerer Repression: Wasserwerfer oder Schlagstock. Gewalt drückt sich heute eben auch oft als organized abandonment aus: als differentielles Vorenthalten von Gütern, die Menschen zu ihrem Wohlergehen brauchen. Hinter diesem Gewaltbegriff steht ein nicht-individualistisches Menschenbild, das Menschen als vulnerable und prekäre Wesen sieht. Das bedeutet auch, dass eine Politik der Anti-Gewalt sich nicht auf eine Abwehr und ein Zurückdrängen von Repressionen beschränken kann, sondern aktiv Bedingungen herstellen muss, die lebbar sind – was Du als Politik der Sorge beschreibst. Dieser Begriff militanter Sorge zirkuliert in vielen abolitionistischen Projekten ganz explizit, von feministischen Ansätzen, antikolonialen und indigenen Kämpfen zu Sanctuary Citys. Hier geht es darum, die destituierende mit der konstituierenden, die negative und die positive Seite zu verbinden, also Gemeinschaften zu schaffen, die gegen die Gewalt des racial capitalism positioniert sind und dabei sorgende Gemeinschaftsbezüge zu etablieren.
JG: Danke Euch beiden für das Gespräch!
Der von Daniel Loick und Vanessa E. Thompson herausgegebene Sammelband Abolitionismus. Ein Reader erschien 2022 bei Suhrkamp.