Im 18. und 19. Jahrhundert bezeichnete „Abolitionismus“ die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei in den Zuckerplantagen der Karibik, einem Motor des frühen Kapitalismus. Geblieben ist bis heute der Kampf gegen rassistische Gewalt – doch der Begriff umfasst in Theorie und Praxis jetzt noch viel mehr.

  • Vanessa E. Thompson

    Vanessa E. Thompson ist Sozialwissenschaftlerin. Sie ist Assistant Professor für Black Studies und Social Justice an der Queen's University, Canada. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der anti-kolonialen Theorien, Black Studies, staatlicher Gewalt im Racial Capitalism und abolitionistischen feministischen Bewegungen. Sie ist in diesen Bereichen auch politsich aktiv.
  • Daniel Loick

    Daniel Loick ist Philosoph und Sozialwissenschaftler. Er ist Associate Professor für Politische Philosophie und Sozialphilosophie an der Universität Amsterdam. Loick beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Ausarbeitung einer kritischen Theorie des Rechts und der Staatsgewalt sowie mit Formen subalterner Sozialität.
  • Jule Govrin

    Jule Govrin ist Philosoph:in und forscht an der Schnittstelle von Politischer Theorie, Sozialphilosophie, Feministischer Philosophie und Ästhetik, aktuell arbeitet sie am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main zur politischen Dimension von Körpern und zu Verwundbarkeit als Modus der Gleichheit. Zu ihren Publikationen zählen "Begehren und Ökonomie. Eine sozialphilosphische Studie" (de Gryuter 2020) und „Politische Körper. Von Sorge und Solidarität“ ( Matthes & Seitz 2022). Neben ihrer Forschung ist sie als Redakteur:in bei Geschichte der Gegenwart tätig.

Jule Govrin: Spätes­tens seit den Black Lives Matters-Protesten 2020 sind aboli­tio­nis­ti­sche Ansätze im Gespräch, vor allem in den USA, aber auch hier, nicht zuletzt durch Euren letztes Jahr erschie­nenen Reader zum Aboli­tio­nismus. Was sind die Grund­züge aboli­tio­nis­ti­scher Prak­tiken, Poli­tiken und Theo­rien, die sich von der Geschichte der Wider­stände gegen Verskla­vung bis in die Gegen­wart des Aufbe­geh­rens gegen Poli­zei­ge­walt ziehen?

Vanessa E. Thompson: Aboli­tio­nis­ti­sche Theo­rien und Prak­tiken gab es schon lange vor 2020. Aboli­tio­nismus – ursprüng­lich als Kampf gegen die Skla­verei – ist vor allem als trans­na­tio­nale Bewe­gung zu verstehen. Das war schon zu Zeiten der Haitia­ni­schen Revo­lu­tion zwischen 1791 und 1804 so. Einige heutige Abolitionist*innen beziehen sich daher auf diesen frühen Aboli­tio­nismus als eine der ersten globalen Bewe­gungen der Moderne. Zugleich gingen die Kämpfe gegen den Plan­ta­gen­ka­pi­ta­lismus natür­lich histo­risch weiter zurück. Der Histo­riker, Kultur­kri­tiker und marxis­ti­sche Theo­re­tiker C. L.R. James disku­tierte in seinem Buch über die Haitia­ni­sche Revo­lu­tion die Wider­stände auf den Skla­ven­schiffen oder die Rebel­lionen auf den Plan­tagen. Wichtig ist zu erwähnen, dass diese Rebel­lionen und die Haitia­ni­sche Revo­lu­tion auch in Europa ein Echo produ­ziert haben, die Zucker­streiks oder die Streiks von Textilarbeiter*innen sind dafür ein gutes Beispiel.

JG: Was verbindet nun alle diese Formen von Aboli­tio­nismus bis heute?

VT: Aboli­tion war nie nur auf einen natio­nalen Kontext bezogen oder auf die Plan­tagen, die konsti­tutiv waren für die kapi­ta­lis­ti­sche Entwick­lung, begrenzt. Ein wesent­li­cher Grundzug des Aboli­tio­nismus ist, dass es ihm gene­rell um die Abschaf­fung von gesell­schaft­li­chen Verhält­nissen, von Produktions- und Bezie­hungs­weisen geht, die die Verskla­vung und andere Formen mehr oder weniger unfreier Arbeit als Über­aus­beu­tung sowie Ausbeu­tung über­haupt erst ermög­li­chen. Der Begriff meint mithin eine Form der Kapi­ta­lis­mus­kritik, die direkte Formen von Gewalt als andau­ernd und konsti­tutiv anstatt als exzep­tio­nell und unty­pisch für die kapi­ta­lis­ti­sche Produk­ti­ons­weise in den Blick nimmt. Zugleich aber geht es ihm um die Entwick­lung von Alter­na­tiven zu kapi­ta­lis­ti­schen Produktions- und Bezie­hungs­weisen im Hier und Jetzt –  „buil­ding socia­lism from the ground“, wie Ruth Wilson Gilmore das nennt.

JG: Neben diesen geteilten Grund­zügen, wie unter­scheiden sich aboli­tio­nis­ti­sche Ansätze in Geschichte und Gegenwart?

Daniel Loick: Wir werden häufiger gefragt: Warum sollen wir jetzt den Begriff Aboli­tio­nismus benutzen, was ist der Unter­schied zu Anar­chismus oder Kommu­nismus? In der Tat gibt es zu diesen Bewe­gungen große Über­schnei­dungen, wobei gesagt werden muss, dass „der Aboli­tio­nismus” selbst sehr hete­rogen ist: Einige Ansätze sehen sich eher in einer kommu­nis­ti­schen, andere eher in einer anar­chis­ti­schen, wieder andere eher in einer sozia­lis­ti­schen Tradi­tion. Es gibt aber eben Merk­male, die aboli­tio­nis­ti­sche Prak­tiken spezi­fisch ausmacht. Ich würde sagen, dazu gehört erstens die von Vanessa ange­spro­chene Doppel­be­we­gung von Nega­tion und Konsti­tu­tion, zwei­tens eine Sensi­bi­lität für das Zusam­men­spiel des Kapi­ta­lismus mit Formen rassis­ti­scher Nekro­po­litik – wie beim buch­stäb­li­chen und bewusst kalku­lierten Verschleiß schwarzer Menschen auf den Plan­tagen, aber auch in Form von Poli­zei­ge­walt oder der Gewalt des Grenz­re­gimes – sowie patri­ar­chaler Unter­drü­ckung, und drit­tens eine starke Kritik an den Gefahren einer bloß refor­mis­ti­schen Politik.

VT: Die Koor­di­naten haben sich etwas verschoben, denn aboli­tio­nis­ti­sche Kämpfe stehen nicht außer­halb poli­ti­scher und ökono­mi­scher Konjunk­turen. Seit den 1970er Jahren haben sie sich zuerst auf Gefäng­nisse und die Polizei konzer­niert und später dann auch auf Grenzen und Lager. Das hängt mit dem neoli­be­ralen Struk­tur­wandel zusammen, denn dies sind Kris­tal­li­sa­ti­ons­punkte der neoli­be­ralen Geogra­phien von  „surplus popu­la­tions”, von Über­schuss­be­völ­ke­rungen, der Produk­tion von „Unbrauch­baren“. Das bedeutet natür­lich nicht, dass Über­aus­beu­tung, die immer schon mit Formen des Rassismus operierte, keine Rolle mehr spielt. Zugleich ist die Klasse der für den Kapi­ta­lismus „Unbrauch­baren“ in den letzten Jahr­zehnten rasant gewachsen. „Über­flüs­sig­keit“ oder „Unbrauch­bar­keit“ bedeutet, dass Menschen für das Kapital keinerlei Wert mehr darstellen, weder als Arbeiter*innen, noch als Konsument*innen oder als Reser­ve­armee – und damit als „unbrauchbar“ und „killable” aussor­tiert und verwahrt werden. Aboli­tio­nis­ti­sche Theo­rien und Prak­tiken formu­lieren eine radi­kale Gesell­schafts­kritik über das Lohn­ar­beits­ver­hältnis hinaus; sie zeigen, wie Rassismus als „staat­lich sank­tio­nierte oder extra-legale Produk­tion und Ausbeu­tung von grup­pen­be­zo­gener Diffe­renz zu früh­zei­tigen Toden führt”, wie Ruth Wilson Gilmore sagt, diese Verhält­nisse durchzieht.

JG: Wie sind diese Konzepte auch in Europa wichtig geworden?

VT: In Europa haben aboli­tio­nis­ti­sche Theo­rien und Prak­tiken durch die welt­weiten Rebel­lionen für schwarze Leben nach der Ermor­dung von George Floyd und Breonna Taylor neue Aufmerk­sam­keit erlangt. Aber es gab schon vorher in Europa und in Deutsch­land eine Tradi­tion der Gefäng­nis­kritik und Poli­zeik­ritik. Sie setzt an einer histo­ri­schen Konjunktur der staat­li­chen Zerschla­gung der radi­kalen Kämpfe in den 1960er und 1970er Jahren sowie an einem neoli­be­ralen und karze­ralen Umbau des Staates, in dem die Verwah­rung von Armut und die Krimi­na­li­sie­rung von Migra­tion der produ­zierten „Unter­klassen” ekla­tant zunimmt. Seit den 1980er Jahren lassen sich vor allem Kämpfe gegen Lager und Grenzen beob­achten, die deren Abschaf­fung, eben deren Aboli­tion fordern.

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DL: Es ist klar, dass sich eine Bewe­gung verän­dert, wenn die Wirk­lich­keit ihr andere Aufgaben stellt. Wie Vanessa würde ich sagen, dass der Kampf gegen Grenzen und Lager heute zentral ist. Es wird bis 2050 1,2 Milli­arden climate refu­gees geben. Wir sehen schon jetzt, dass Staaten auf die Mobi­lität von Migrant*innen nur mit Inter­nie­rung und Ster­ben­lassen reagieren können. Hier drängt sich der Aboli­tio­nismus als einzig realis­ti­sche Alter­na­tive auf: Es wird nicht anders gehen als ganz andere Insti­tu­tionen der poli­ti­schen Selbst­re­gie­rung, Zuge­hö­rig­keit und Mitglied­schaft zu erfinden. Auch die ökolo­gi­sche Zerstö­rung zeigt die Dring­lich­keit einer aboli­tio­nis­ti­schen Kritik auf: Der Aboli­tio­nismus ist der einzige Ansatz, der den Anteil staat­li­cher und karze­raler Gewalten, die in kolo­nialen Tradi­tionen stehen, in die Kritik mit einbeziehen.

JG: Ruth Wilson Gilmore betont ja die ökono­mi­sche Dimen­sion von Inhaf­tie­rungs­prak­tiken, als staat­liche Reak­tion auf kapi­ta­lis­ti­sche Krisen. Die Subven­tionen für Gefäng­nisbau nehmen zu, während Einrich­tungen wie Frau­en­häuser, die Anti­ge­walt­ar­beit leisten, Gelder gestri­chen werden. Zu fordern, diese Gelder zugunsten von commu­nity-basierten Initia­tiven umzu­schichten, scheint sinn­voll. Doch wenn solche Ansätze Commu­ni­ty­ar­beit gezielt am Staat vorbei orga­ni­sieren, folgen sie nicht unwil­lent­lich neoli­be­raler Spar­po­litik, die die Sorge von staat­li­chen Struk­turen ins Private ausla­gern? Und wenn ja, wie können sie dem entgegenwirken?

DL: Diese Gefahr, dass commu­nity-basierte Lösungen zum Lücken­büßer für Sozi­al­staats­abbau werden können, gibt es sicher­lich. Das ist ein poli­ti­sches Paradox, mit dem radikal trans­for­ma­tive Politik immer umgehen muss: Die Arbeiter*innen streiken für höhere Löhne, aber genau das macht sie für den Kapi­ta­lismus auch besser ausbeutbar. Gras­wur­ze­l­in­itia­tiven orga­ni­sieren Suppen­kü­chen auf Lesbos, tragen dabei aber auch zur Aufrecht­erhal­tung des Lager­sys­tems bei. Die Rettung von Geflüch­teten auf dem Mittel­meer läuft Gefahr, den Rückzug des Staates von der Aufgabe der Seenot­ret­tung zu legi­ti­mieren. Aber soll man aufgrund dieser Gefahren solche Akti­vi­täten unter­lassen? Es müsste doch eher darum gehen, sie radikal auszu­weiten, damit commu­nity-basierte Lösungen eine stabile und verläss­liche Alter­na­tive zum diszi­pli­nie­renden Sozi­al­staat darstellen können.

VT: Ich denke, dass die durchaus berech­tigte Kritik am commu­nity-Kapi­ta­lismus das Poten­tial aboli­tio­nis­ti­scher Kämpfe etwas verkennt. Es ging nie um eine Priva­ti­sie­rung der Sorge(arbeit), sondern um eine gesell­schaft­liche Erpro­bung der Möglich­keiten von sozia­lis­ti­schen Infra­struk­turen. Auch gegen­wär­tige aboli­tio­nis­ti­sche Projekte wie Trans­for­ma­tive Justice haben eine Doppel­be­we­gung. Es geht einer­seits um die Mobi­li­sie­rung von caring commu­ni­ties, von Prak­tiken der Unter­stüt­zung vor allem für margi­na­li­sierte commu­ni­ties wie Geflüch­tete, geschlecht­lich margi­na­li­sierte und verarmte Gruppen. Gleich­zeitig geht es um den Aufbau von Gegen-Macht und den Kampf um staat­liche Infra­struk­turen. Denken wir an die Black Panthers: Die Selbst-Organisierung von free break­fast programs und von commu­nity health centres war nicht einfach charity. Der karze­rale Staat soll zurück­ge­drängt und sorgende Infra­struk­turen sollten aufge­baut werden. Auch im Aids-Aktivismus ging es ja nicht darum den Staat einfach zu entlasten. Das ist kein Entweder/Oder. Die Kämpfe für sozialen Wohnungsbau für nicht-privatisierte Gesund­heits­ver­sor­gung, für öffent­lich zugäng­liche Bildung und für höhere Löhne sowie die Entloh­nung von Care-Arbeit und Bewe­gungs­frei­heit sind Teil dieser Kämpfe.

Ich sehe das Problem einiger defund-Kampa­gnen, wie defund the police – also Re-investition in soziale gesell­schaft­liche Infra­struk­turen – eher woan­ders, nämlich in dem latenten metho­do­lo­gi­schen Natio­na­lismus. Gurminder Bhambra und andere deko­lo­niale Forscher*innen des Wohl­fahrts­ka­pi­ta­lismus haben gezeigt, dass der Wohl­fahrts­ka­pi­ta­lismus stets auf der Unter­schei­dung zwischen den deser­ving und unde­ser­ving poor ange­wiesen war, außerdem ist der Wohl­fahrts­ka­pi­ta­lismus selbst auf die andau­ernde Akku­mu­la­tion durch Enteig­nung in den kolo­nialen oder neo-kolonialen soge­nannten Peri­phe­rien ange­wiesen. Das bedeutet, dass wir keine Kämpfe um staat­liche Infra­struk­turen kämpfen können, ohne nicht die globale, vor allem verge­schlecht­lichte, Arbeits­tei­lung in den Blick zu nehmen. Hier muss sich der Aboli­tio­nismus wieder stärker inter­na­tio­na­li­sieren. Es darf niemals nur um die staat­liche Umver­tei­lung von Ressourcen gehen, sondern um die inter­na­tio­nale Umver­tei­lung und radi­kale Vergesellschaftung.

JG: Diese trans­na­tio­nale Dimen­sion aboli­tio­nis­ti­scher Kämpfe schließt an ihre Trans­ver­sa­lität an, die Du, Vanessa, ange­deutet hast. Welche trans­ver­salen Linien lassen sich zu anderen sozialen Kämpfen ziehen, etwa Kämpfe gegen extrak­ti­vis­ti­sche Enteig­nung  – die scho­nungs­lose Ausbeu­tung von natür­li­chen Ressourcen – oder die femi­nis­ti­sche Streik­be­we­gung? Wird hier ein erwei­terter Gewalt­be­griff wichtig, der sichtbar macht, wie ökono­mi­sche und staat­liche Gewalt, rassis­ti­sche und geschlech­ter­ba­sierte Gewalt zusam­men­wirkt? Ebenso wie ein Gedanke der diffe­ren­ti­ellen Ausbeu­tung, wie ich es nennen würde, der Ausbeu­tung entlang der Achsen inter­na­tio­nalen und verge­schlecht­li­chen Arbeits­tei­lung begreift?

VT: Ich würde Aboli­tio­nismus nicht auf staat­liche Gewalt redu­zieren, es geht viel­mehr um die Verschrän­kungen von Gewalt als Methode des globalen Systems. Verskla­vung ist auch eine Form der ökono­mi­schen Gewalt und die Frage der Repro­duk­tion des Plan­ta­gen­ver­hält­nisses ist ohne syste­ma­ti­sche verge­schlecht­lichte und sexua­li­sierte Gewalt nicht zu denken. Es waren vor allem Third World femi­nists, die den Zusam­men­hang zwischen inter­per­so­neller geschlechts­spe­zi­fi­scher Gewalt und struk­tu­reller geschlech­ter­ba­sierten Gewalt im kolo­nialen Kapi­ta­lismus hervor­ge­hoben haben. Diese Kritik findet sich beispiels­weise in der Mütter­be­we­gung in Brasi­lien, die Fragen von der Produk­tion von surplus popu­la­tions mit rassis­ti­schen Struk­turen, urbaner Verwer­tung und Verdrän­gung, Land­nahme, verge­schlecht­lichter Über­aus­beu­tung und Verschul­dung verbinden. Aus abolitionistisch-feministischer Perspek­tive finde ich span­nend, dass die Frage der Staats- und Grenz­ge­walt gerade in den Teilen der schwarzen und dritte Welt Frau­en­or­ga­ni­sa­tionen der Wages for House­wives-Kampagne eine wesent­liche Rolle gespielt haben. Migran­ti­sche femi­nis­ti­sche Selbst­or­ga­ni­sie­rung, auch in Deutsch­land oder wie bei Women in Exile, betont, wie Klima­zer­stö­rung, Extrak­ti­vismus, Kriegs­ka­pi­ta­lismus und die verge­schlecht­lichte Arbeits­tei­lung durch staat­liche Gewalt und Grenz­ge­walt forciert und vermit­telt werden.

JG: Was wären da weitere konkrete Kämpfe?

VT: In anti-kolonialen Kämpfen hat Extrak­ti­vismus immer eine große Rolle gespielt, da Kolo­nia­lismus schlecht ohne die Aneig­nung von Land und Zerstö­rung von nicht-menschlichen Umwelten operieren kann. Das hat Fanon gezeigt. Das sehen wir in aboli­tio­nis­ti­schen Kämpfen von Südafrika bis zu den indi­gene Kämpfen der land defen­ders in Turtle Island oder der Umweltaktivist*innen in Kolum­bien. Die ekla­tante Krimi­na­li­sie­rung des Klima­ak­ti­vismus, die wir gerade in Deutsch­land und Europa erleben, ist aus diesen Perspek­tiven alles andere als neu, auch wenn die Konjunk­turen andere sind. Was in Europa oft ‚zusam­men­ge­dacht’ werden muss, ist in den soge­nannten kapi­ta­lis­ti­schen Peri­phe­rien sowieso oft unver­mit­telter verbunden. Ich denke, wich­tiger ist die Frage, wie wir aboli­tio­nis­ti­sche Kämpfe inter­na­tional wieder stärker in Bezie­hung setzen können, mit dem Wissen, dass nicht alle diese Kämpfe unter diese Begriff firmieren. Ich verstehe Aboli­tio­nismus als eine neue Form des radi­kalen Inter­na­tio­na­lismus „von unten”.

DL: Die Verschrän­kung unter­schied­li­cher Gewalt­di­men­sionen, die einen umfas­senden und inter­na­tional ausge­rich­teten Ansatz nötig machen, können wir auch anhand konkreter Ereig­nisse vor Ort aufschlüs­seln. So haben wir in unserer Analyse zu den Poli­zei­morden im August 2022 für einen multi­di­men­sio­nalen Gewalt­be­griff plädiert. Wir sehen das zum Beispiel am Mord an Mohamed Dramé in Dort­mund am 8. August 2022. Es gibt zum einen die direkte Poli­zei­ge­walt, durch die Schüsse aus den Maschi­nen­pis­tolen der Poli­zisten. Diese ist einge­bettet in eine grund­le­gen­dere Gewalt der orga­ni­sierten Vernach­läs­si­gung: Mohamed befand sich in einer psychi­schen Krisen­si­tua­tion und hatte mehr­fach versucht, psycho­lo­gi­sche Hilfe zu bekommen, wurde aber abge­wiesen – auch dieses Vorent­halten von Sorge-Ressourcen ist eine Form der Gewalt. Mohamed war außerdem Refugee, er war Opfer der Gewalt des Grenz­re­gimes und des Kolo­nia­lismus. All diese Formen müssen wir zusam­men­denken, um eine gute Analyse des racial capi­ta­lism, aber auch eine gute Gegen­stra­tegie finden wollen.

JG: In dieser Hinsicht ist das über­zeu­gend. Aller­dings erscheinen Ansätze der trans­for­ma­tiven Gerech­tig­keit auch risi­ko­reich, beson­ders wenn sie Bezie­hungs­ge­walt durch commu­nity-Ansätze statt Strafen behan­deln wollen. Bergen die Versöhnungs- und Heilungs­ideale (healing), die dort mitschwingen, nicht die Gefahr, einen Kohä­si­ons­zwang des Gemein­schaft­liche und die Gefühle der Gewalt­aus­übenden über die Gewalt­be­trof­fenen zu stellen?

DL: Es gibt sicher­lich unzäh­lige Probleme bei Trans­for­ma­tive Justice-Ansätzen, die sich ja selbst als Expe­ri­mente und nicht als fertige Rezepte verstehen: Oft lähmt die Arbeit mit gewalt­aus­übenden Personen ganze Struk­turen über Jahre hinweg, Arbeit, die häufig wiederum von Frauen, trans und queeren Menschen gemacht wird. Auch konzep­tuell finde ich nicht alles über­zeu­gend, insbe­son­dere wenn auf Werte wie Liebe Bezug genommen wird. Aber dass die Gefühle der Gewalt­aus­übenden über die der Betrof­fenen gestellt werden, würde ich so nicht sehen – der Ausgangs­punkt der Entwick­lung dieser Modelle war ja, dass karze­rale „Lösungen” die Bedürf­nisse der Betrof­fenen nicht ernst­ge­nommen haben, dass sie sie viel­mehr entmäch­tigt und in eine passive Rolle gesetzt oder sogar selbst krimi­na­li­siert haben. Trans­for­ma­tive Justice nimmt seinen Ausgangs­punkt bei den konkreten Bedürf­nissen von Betrof­fenen, die häufig komplexer sind als nur die Bestra­fung, wie sichere Räume, Kinder­be­treuung, Wohnen, finan­zi­elle Absi­che­rung, etc. Welche Maßnahmen sind nötig, damit sie nach einer trau­ma­ti­schen Erfah­rung wieder eine Hand­lungs­fä­hig­keit entwi­ckeln können? Und das schließt oft eben eine Verant­wor­tungs­über­nahme und Verhal­tens­än­de­rung der gewalt­aus­übenden Person ein – etwas, das von Prak­tiken, die nur auf Ausschluss und Isola­tion setzen, nicht erreicht werden kann.

JG: Das muss aber auch bedeuten, getrennte Räume zu ermög­li­chen, wenn das Bedürfnis von Betrof­fenen darin besteht, dass sich die gewalt­aus­übende Person eben nicht mehr in den geteilten gemein­schaft­li­chen Räumen aufhält. – Doch wir sollten noch einige prak­ti­sche Beispiele für aboli­tio­nis­ti­sche Arbeit beleuchten, wie die Initia­tive Kampagne für Opfer rassis­ti­scher Poli­zei­ge­walt, KOP Berlin, Wran­gel­kiez United oder die Bildungs­in­itia­tive Ferhat Unvar, gegründet von den Ange­hö­rigen der in Hanau ermor­deten Menschen.

VT: Die Arbeit von Women in Exile, die seit nunmehr mehr als zwanzig Jahren exis­tieren, macht seit Beginn deut­lich: abolish lagers and borders! Die no-border Bewe­gung in Europa hatte immer eine aboli­tio­nis­ti­sche Dimen­sion, zumin­dest die radi­ka­leren Teile, die einen libe­ralen Huma­ni­ta­rismus zurück­weisen. Bei poli­zeik­ri­ti­schen Gruppen sehe ich diese Dimen­sion auch, zumin­dest bei denje­nigen, die Poli­zei­ge­walt als konsti­tutiv für die kapi­ta­lis­ti­sche Eigen­tums­ord­nung begreifen und damit nicht einfach für eine Reform der Polizei entstehen, sondern für deren Abschaf­fung als Bestand­teil einer radi­kalen gesell­schaft­li­chen Trans­for­ma­tion. Kämpfe gegen Poli­zieren sind ein wesent­li­cher Kris­tal­li­sa­ti­ons­punkt, das sehen wir an den Rebel­lionen in Paris, der Orga­ni­sie­rung um den Görlitzer Park sowie um Schwimm­bäder in Kreuz­berg oder Neukölln. Ich würde da aber nicht jede anti-rassistische Initia­tive dazu zählen. Es gibt gerade seit den letzten zwanzig Jahren einen neoli­be­ralen Anti-Rassismus, der sich bequem in die bestehende Ordnung und die Logik der Indi­vi­dua­li­sie­rung einglie­dern lässt.

Viele unab­hän­gige Kommis­sionen oder auch Recher­che­gruppen machen oft wich­tige Arbeit, und wissen zugleich um die krassen Grenzen des libe­ralen Rechts. Daraus ergibt sich ein eher stra­te­gi­scher Umgang. Die Initia­tive im Gedenken an Oury Jalloh führt Rechts­kämpfe auch als Orga­ni­sie­rungs­stra­tegie und zur Entlar­vung der rassis­ti­schen Klas­sen­justiz. Aboli­tio­nismus bewegt sich im Span­nungs­feld der radi­kalen Kritik des libe­ralen Huma­nismus und der Mobi­li­sie­rung von aboli­tio­nis­ti­schen radi­kalen Alter­na­tiven. Dabei wird zum Recht oft ein instru­men­teller Umgang entwi­ckelt. Auch der Unter­schied zwischen nicht-reformerischen und refor­mis­ti­schen Reformen spielt hier eine Rolle.

JG: Vor dem Hinter­grund meiner Forschung zum Univer­sa­lismus von unten und einer radi­kalen, rela­tio­nalen Gleich­heit zum Schluss noch eine philo­so­phi­schere Frage: Zeigt sich in aboli­tio­nis­ti­schen Bewe­gungen eine Gleich­heit als prekäre, brüchige Praxis, die sich davon abwendet, das Recht als egali­sie­rendes Element zu begreifen, sondern auf der Viel­falt von Stand­punkten, grund­le­gender Verbun­den­heit und geteilter Sorge aufbaut?

DL: Die Gewalt, gegen die sich aboli­tio­nis­ti­sche Stra­te­gien richten, erschöpft sich nicht in äußerer Repres­sion: Wasser­werfer oder Schlag­stock. Gewalt drückt sich heute eben auch oft als orga­nized aban­don­ment aus: als diffe­ren­ti­elles Vorent­halten von Gütern, die Menschen zu ihrem Wohl­ergehen brau­chen. Hinter diesem Gewalt­be­griff steht ein nicht-individualistisches Menschen­bild, das Menschen als vulnerable und prekäre Wesen sieht. Das bedeutet auch, dass eine Politik der Anti-Gewalt sich nicht auf eine Abwehr und ein Zurück­drängen von Repres­sionen beschränken kann, sondern aktiv Bedin­gungen herstellen muss, die lebbar sind – was Du als Politik der Sorge beschreibst. Dieser Begriff mili­tanter Sorge zirku­liert in vielen aboli­tio­nis­ti­schen Projekten ganz explizit, von femi­nis­ti­schen Ansätzen, anti­ko­lo­nialen und indi­genen Kämpfen zu Sanc­tuary Citys. Hier geht es darum, die desti­tu­ie­rende mit der konsti­tu­ie­renden, die nega­tive und die posi­tive Seite zu verbinden, also Gemein­schaften zu schaffen, die gegen die Gewalt des racial capi­ta­lism posi­tio­niert sind und dabei sorgende Gemein­schafts­be­züge zu etablieren.

JG: Danke Euch beiden für das Gespräch!

 

Der von Daniel Loick und Vanessa E. Thompson heraus­ge­ge­bene Sammel­band Aboli­tio­nismus. Ein Reader erschien 2022 bei Suhrkamp.