Der freie Gebrauch des Internets ist in der Türkei seit Jahren einem wachsenden Zensurdruck ausgesetzt. Das 2020 in Kraft getretene neue Internetgesetz zielt nun aber direkt auf die Sozialen Medien – und bedroht damit die journalistische Arbeit und die Informationsfreiheit frontal.

  • K. Zeynep Sarıaslan

    K. Zeynep Sarıaslan is visiting fellow at the European Institute, London School of Economics and Political Science. She was previously at the Centre for Modern Oriental Studies in Berlin and worked as a lecturer at the University of Bern Institute of Social Anthropology. She studied sociology and social anthropology at the Middle East Technical University in Ankara and received her Ph.D. in 2018 from the University of Zurich in 2018. Her current research project deals with reconfigurations of media, migration, digital cultures, and transnational politics.

Als das türki­sche Parla­ment im Juni 2020 einen Zusatz zum natio­nalen Inter­net­ge­setz verab­schie­dete, die darauf zielen, Anbieter Sozialer Medien zu regu­lieren, fühlten sich Jour­na­lis­tinnen und Jour­na­listen in ihren schlimmsten Ängsten bestä­tigt. Laut Amnesty Inter­na­tional „zielen die Ände­rungen auf einen der wenigen verblei­benden – wenn auch zuneh­mend einge­schränkten – Räume ab, in denen Menschen ihre Meinung frei äußern können.“ Obwohl die Mehr­heit der türki­schen Bevöl­ke­rung ihre Nach­richten immer noch aus dem Fern­sehen bezieht und keinen Twitter-Account hat, boten die Sozialen Medien in den letzten Jahren eine deut­lich weniger regu­lierte Infor­ma­ti­ons­quelle. Wie Tom Porteous von Human Rights Watch erklärte, „sind Soziale Medien ein Rettungs­anker [life­line] für viele Menschen, die sie für den Zugang zu Nach­richten nutzen, dieses Gesetz signa­li­siert daher eine neue dunkle Ära der Online-Zensur.“

Als Ankara die Meinungs­frei­heit auf Twitter einschränkte, recher­chierte ich gerade zur Online­ar­beit türki­scher Journalist:innen in Deutsch­land. Meine Recher­chen führten mich dazu, mit zwei Arten von ihnen zu spre­chen: Einige waren erst seit Kurzem im Exil, andere waren schon vor langer Zeit einge­wan­dert. Dieje­nigen, die erst kürz­lich ins Exil gegangen waren, waren beson­ders nervös, weil sie sich stark auf die sozialen Medien verließen, um ihr Publikum „zu Hause“ zu errei­chen. Um das Ausmaß der neuen Kontrolle der Regie­rung über Online-Medien zu veran­schau­li­chen, verglich Can Dündar, ein seit 2016 in Deutsch­land im Exil lebender Jour­na­list, das neue Gesetz mit einem Ein/Aus-Schalter für Soziale Medien, der vom Präsi­den­ten­pa­last kontrol­liert werde – auch wenn noch unklar ist, wie sich das Gesetz, das Anfang Oktober 2020 in Kraft trat, auf unab­hän­gige türki­sche Journalist:innen im Ausland auswirken wird.

Internet-Zensur

Das neue „Inter­net­ge­setz“, offi­ziell bekannt als „Regu­lie­rung von Veröf­fent­li­chungen im Internet und Unter­drü­ckung von Straf­taten, die mit Hilfe solcher Veröf­fent­li­chungen begangen werden“, enthält neue Regeln für im Ausland ansäs­sige Anbieter Sozialer Netz­werke wie Face­book, Twitter und Google. So müssen diese Online-Plattformen nun mindes­tens einen bevoll­mäch­tigten Vertreter oder eine Vertre­terin in der Türkei benennen, der von der Justiz bestraft werden kann, wenn das Netz­werk nicht inner­halb von 48 Stunden auf offi­zi­elle Auffor­de­rungen zur Entfer­nung von Inhalten reagiert, die der Staat für uner­wünscht hält. Außerdem muss der Vertreter des entspre­chenden Inter­net­un­ter­neh­mens nun alle sechs Monate bei den Behörden einen Bericht mit Infor­ma­tionen über dessen Nutzer in der Türkei einreichen.

Elisa­betta Costa, „Social Media in Southeast Turkey
Love. Kinship and Politics“.

Die Unter­drü­ckung von türki­schen Anders­den­kenden hatte seit dem Sommer 2013 zuge­nommen, als eine Welle öffent­li­cher Demons­tra­tionen auf den Stadt­ent­wick­lungs­plan für den Istan­buler Taksim Gezi Park folgte. In ihrem 2016 erschie­nenen Buch Social Media in Southeast Turkey berichtet die Ethno­grafin Elisa­betta Costa, dass „die Gezi-Park-Proteste im Juni 2013 […] zu einer staat­li­chen Propa­ganda gegen Soziale Medien führten und die Verschwö­rungs­theorie der Regie­rung bestärkten, wonach viele euro­päi­sche Länder hinter den Demons­trie­renden stünden und sie unter­stützten, um die Wirt­schaft und poli­ti­sche Stabi­lität der Türkei zu schä­digen. Diese Anti-Social-Media-Propaganda verschärfte sich während des Wahl­kampfs vor den Kommu­nal­wahlen im März 2014, als YouTube und Twitter genutzt wurden, um den Ruf von Minis­ter­prä­si­dent Erdoğan zu diskre­di­tieren, der für das Amt des Präsi­denten kandidierte.“

Schon im Februar 2014 war das Inter­net­ge­setz geän­dert worden, um es den Behörden einfach zu machen, Websites ohne Gerichts­be­schluss zu sperren. Ursprüng­lich sollte das Gesetz Kinder vor schäd­li­chen Inhalten schützen und die Verlet­zung von Persön­lich­keits­rechten verhin­dern, wurde dann jedoch dazu benutzt, Online-Plattformen wie YouTube, Twitter und Wiki­pedia zu sperren. Die Novelle verstärkte die staat­liche Zensur. In einem beson­ders markanten Fall blockierte die Regie­rung die Veröf­fent­li­chung von heim­lich aufge­zeich­neten Tele­fon­ge­sprä­chen, die Korrup­tion unter Poli­ti­kern und hoch­ran­gigen Büro­kraten aufdeckten. Im Sommer 2016 folgte auf den geschei­terten Putsch der Ausnah­me­zu­stand, in dem die Regie­rung die große Mehr­heit der alter­na­tiven oder oppo­si­tio­nellen Online-Nachrichtenkanäle abschaltete.

Behin­de­rung jour­na­lis­ti­scher Arbeit

In diesem zuneh­mend ange­spannten poli­ti­schen Klima sind viele profes­sio­nelle Journalist:innen nach Europa ausge­wan­dert. Seit 2017 haben diese Exilanten unzen­sierte Nach­richten für ein Publikum gelie­fert, das haupt­säch­lich in der Türkei geblieben ist. Die meisten dieser kleinen Nach­rich­ten­or­ga­ni­sa­tionen hatten sehr begrenzte Budgets und waren daher gezwungen, sich auf kosten­lose Online-Tools zu verlassen, die von Sozialen Medien ange­boten werden. Außerdem sind ihre Websites in der Türkei aufgrund des Inter­net­ge­setzes nicht immer zugäng­lich, sodass diese türki­schen Auslandsjournalist:innen beson­ders auf ihre Social-Media-Konten ange­wiesen sind.

Unab­hän­gige Stimmen wurden zuneh­mend zum Schweigen gebracht. So hinderten die türki­schen Behörden im Jahr 2018 Exil-Journalist:innen daran, webba­sierte Rund­funk­dienste wie Inter­net­ra­dios zu nutzen, indem sie den Zugang zu deren Websites blockierten. Ebenso wurden im selben Jahr Fern­seh­sender und Platt­formen, die in der Türkei oder im Ausland im Internet sendeten, der Aufsicht des Obersten Rundfunk- und Fern­seh­rats („RTÜK“) unter­stellt. Dies war auch der erste recht­liche Schritt der Regie­rung, auslän­di­sche Platt­formen zu zwingen, eine offi­zi­elle Filiale in der Türkei zu eröffnen.

Zunächst schienen diese neuen Maßnahmen keine große Sache zu sein in einem Land, in dem die primäre Infor­ma­ti­ons­quelle nach wie vor das Fern­sehen ist. Ange­sichts der Domi­nanz regie­rungs­freund­li­cher Stimmen in den konven­tio­nellen Medien der Türkei und dem Ange­wie­sen­sein unab­hän­giger Nach­rich­ten­an­bieter auf auslän­di­sche Platt­formen drohten diese Maßnahmen von 2018 jedoch, die Verbin­dung unab­hän­giger Jour­na­lis­tinnen und Jour­na­listen zu ihrem Publikum voll­ständig zu unter­bre­chen. Exil-Journalist:innen nutzten daher Social-Media-Plattformen wie YouTube als eine Möglich­keit, diese einschrän­kende Gesetz­ge­bung zu umgehen. Im Juni 2020 schlug die Regie­rung dann mit ihrer aktua­li­sierten Rege­lung zu Sozialen Medien zurück.

Viele junge türki­sche Journalist:innen, die in Deutsch­land leben, finden, dass es sich immer noch lohnt, ihre Arbeit fort­zu­setzen, auch aus der Ferne: „Ich finde es immer noch komisch“, sagt eine von ihnen, „im Ausland zu leben und Infor­ma­tionen nicht auf der Straße, sondern am Schreib­tisch zu sammeln, sie zu verar­beiten und dann zurück an das Publikum in der Türkei zu schi­cken. Warum machen wir das dann? Einfach, weil wir hier [in Deutsch­land] frei sind, Nach­richten zu produ­zieren.“ Außerdem sind die Sozialen Medien für sie ein sehr mäch­tiges Instrument:

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Es ist nicht einfach, Nach­richten zu machen, ohne in der Türkei vor Ort zu sein und das Gefühl auf der Straße anzu­zapfen… Aber wir leben in einer anderen Welt, die Twitter heißt. Abge­sehen von den Heraus­for­de­rungen, die es mit sich bringt, ein Migrant zu sein, löst die Tech­no­logie die Probleme von migran­ti­schen Journalist:innen doch zu einem großen Teil.

Dennoch sind diese Journalist:innen stark auf ihre Kontakte in der Türkei ange­wiesen: „Ich denke manchmal, dass ich mich nur auf die Kontakte verlassen werde, die ich in der Türkei geknüpft habe, wenn ich länger hier bleibe. Es ist nicht möglich, hier ein großes Netz­werk aufzu­bauen und unter­schied­liche Stimmen zu sammeln.“ Und letzt­lich sind es meist doch die Reporter:innen, die in der Türkei vor Ort arbeiten, die die Infor­ma­tionen sammeln und die Agenda bestimmen: „Manchmal fühle ich mich hier nutzlos. Sie machen die ganze Arbeit. Was ist mein Beitrag?“

Regu­lie­rung von „Hate Speech“ als Vorbild und Vorwand

Chris­tian Mihr, der Direktor von Reporter ohne Grenzen Deutsch­land, betonte:

Die Auswei­tung des türki­schen Inter­net­ge­setzes bestä­tigt, was wir schon die ganze Zeit sagen: Auto­ri­täre Regime verweisen auf den Präze­denz­fall, den unter anderem das deut­sche Netz­werk­durch­set­zungs­ge­setz (NetzDG) von 2017, eine Maßnahme zur Bekämp­fung von Hass­reden, geschaffen hat, und recht­fer­tigen damit die Verab­schie­dung neuer Gesetze, die ihre Kontrolle über soziale Medien verschärfen.

Als ich mit dem Verfas­sungs­rechtler Ali Rıza Çoban sprach, bestä­tigte er, dass das türki­sche Inter­net­ge­setz von 2020 dem Geist der General Data Protec­tion Regu­la­tion (GDPR) der Euro­päi­schen Union entspricht und von ähnli­chen Gesetzen in Deutsch­land und Frank­reich inspi­riert ist. In der Türkei wurde das neue Inter­net­ge­setz aller­dings umge­hend dazu genutzt, unbe­queme Nach­richten entfernen zu lassen – Inhalte etwa, die mit Korrup­tion und umstrit­tenen poli­ti­schen Figuren zu tun haben. In Deutsch­land hingegen sind Social-Media-Regelungen, wie Çoban betonte, stark umstritten, und in Frank­reich hat der Verfas­sungsrat viele von ihnen wieder aufge­hoben. Çoban argu­men­tiert daher, dass das „Gesetz in Deutsch­land eine viel einge­schränk­tere Version des türki­schen Inter­net­ge­setzes ist. Am wich­tigsten ist natür­lich, dass in Deutsch­land juris­ti­sche Unab­hän­gig­keit und Meinungs­frei­heit exis­tieren, nicht aber in der Türkei.“

Kommt hinzu, dass Ankara Geld von den Social-Media-Plattformen will. Tatsäch­lich hat die Türkei seit Oktober 2020 von Face­book, Twitter, YouTube, TikTok und Insta­gram jeweils vier Millionen Euro für Verstöße gegen das neue Gesetz verlangt. In den kommenden Monaten drohen den Social-Media-Giganten weitere Strafen, darunter das Verbot des Verkaufs von Werbung und die Redu­zie­rung der Band­breite des Inter­net­ver­kehrs der sozialen Netz­werke um bis zu 90 Prozent, wenn sie sich nicht an die neue Gesetz­ge­bung halten. Ja, noch mehr: Wenn sie sich nicht an das neue Gesetz halten, wird der Zugriff auf diese Social-Media-Plattformen in der Türkei nach Mai 2021 fast unmög­lich werden. Die türki­sche Regie­rung erhofft sich durch das neue Inter­net­ge­setz erheb­liche wirt­schaft­liche Vorteile. In der Tat ist die Besteue­rung der Werbe­ein­nahmen von Tech­no­lo­gie­un­ter­nehmen das, was die Regie­rung seit 2010 anstrebt. Dies würde gerade kleinen Unter­nehmen schaden, die Face­book als Handels­platt­form nutzen.

Die Grenzen staat­li­cher Kontrolle

Es ist unklar, ob die Social-Media-Plattformen die tech­ni­schen Möglich­keiten haben, die Daten ihrer Nutzer zu teilen, selbst wenn sie es wollten. Tatsäch­lich erklärte eine der Social-Media-Branche nahe­ste­hende türki­sche Quelle, dass nicht einmal die Unter­nehmen selbst Zugriff auf die verschlüs­selten Daten haben, die die Nutzer unter­ein­ander austau­schen. Dies würde darauf hindeuten, dass die Forde­rungen der Behörden mögli­cher­weise nicht realis­tisch sind.

Obwohl man argu­men­tieren könnte, dass das neue türki­sche Gesetz nicht mit der Realität der tech­no­lo­gi­schen Infra­struktur vereinbar ist, bleibt es unklar, wie die Unter­nehmen mit den Daten umgehen. Als WhatsApp im Januar 2021 seine Nutzer:innen in der Türkei auffor­derte, neue Bedin­gungen zu akzep­tieren, die den Austausch von Daten mit Face­book erlauben, protes­tierten viele und wech­selten zu anderen Instant-Messaging-Apps. Heraus­ge­for­dert durch die Reak­tion der Nutzer:innen, auch von Präsi­dent Erdoğan selbst, verschob WhatsApp seine neue Politik auf Mai 2021.

Bereits im Sommer 2020, kurz bevor das Parla­ment den Zusatz zum Inter­net­ge­setzes verab­schie­dete, erklärte Präsi­dent Erdoğan vor einer Versamm­lung von NGOs:

Wir arbeiten an einer umfas­senden Gesetz­ge­bung in dieser Hinsicht. Sobald sie fertig­ge­stellt ist, werden wir alle Methoden [zur Regu­lie­rung sozialer Medien] einführen, einschließ­lich Zugangs­be­schrän­kungen und recht­li­cher und finan­zi­eller Sank­tionen. Die Türkei ist keine Bananenrepublik.

Ein paar Wochen später schloss Twitter aller­dings mehr als 7.000 Konten, weil sie regie­rungs­freund­liche Propa­ganda machten: „Basie­rend auf unserer Analyse der tech­ni­schen Indi­ka­toren des Netz­werks und des Konto­ver­hal­tens wurde die Samm­lung von falschen und kompro­mit­tierten Konten genutzt, um poli­ti­sche Narra­tive zu verstärken, die für die Regie­rungs­partei AKP günstig waren und eine starke Unter­stüt­zung für Präsi­dent Erdogan zeigten.“ Die Türkei hat 13,6 Millionen Twitter-Nutzer und ist damit der siebt­größte Markt für das Unter­nehmen. Darüber hinaus bleibt Twitter in der Türkei eine hoch­po­li­ti­sche Platt­form, ein Online-Raum, in dem die Jugend kollek­tive Aktionen orga­ni­siert, zumal es immer kompli­zierter geworden ist, auf der Straße zu demons­trieren. Ein Exil­jour­na­list beklagte sich einmal bei mir, dass er in Deutsch­land nicht so erfolg­reich digi­tale Proteste orga­ni­sieren kann wie in der Türkei. Gleich nach seiner Über­sied­lung nach Deutsch­land fing er an, als Jour­na­list in Berlin zu arbeiten, wurde aber von seinem Arbeit­geber schlecht behan­delt. Parallel dazu betreibt er einen popu­lären Twitter-Account mit mehr als einer Millionen Follo­wern, haupt­säch­lich in der Türkei. Er sagt: „Wenn [mir] das in der Türkei passiert wäre, ich würde einen Hashtag daraus machen und die Sache wäre geregelt.“

 

Dieser Text erscheint in Koope­ra­tion mit dem Pilot-Blog der Schwei­ze­ri­schen Gesell­schaft Mitt­lerer Osten und Isla­mi­sche Kulturen (SGMOIK), die junge Forschende im Bereich Wissen­schafts­kom­mu­ni­ka­tion fördert.