Das Urteil zum Abtreibungsrecht in den USA ist ein Paradebeispiel für Interessenpolitik durch das Rechtssystem. Es zeigt die Risiken einer Polarisierung und Ent-Politisierung gesellschaftlicher Konflikte ebenso wie die mobilisierende Wirkung von Urteilen, denen es an gesellschaftlicher Akzeptanz mangelt.

  • Katharina van Elten

    Dr. Katharina van Elten ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Politikwissenschaft/Politisches System Deutschlands der Ruhr-Universität Bochum. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Verbände- und Interessengruppenforschung an der Schnittstelle zur Organisations- und Rechtssoziologie. Sie ist Vorstandsmitglied es Arbeitskreises „Organisierte Interessen“ der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft.

Am 24. Juni 2022 kippte die konser­va­tive Mehr­heit am Supreme Court das Meilen­stein­ur­teil Roe v. Wade und been­dete damit das fünfzig Jahre geltende Recht auf Abtrei­bung in den USA. Seit dem Urteil im Fall Roe v. Wade im Jahre 1973 bestand das Recht auf Schwan­ger­schafts­ab­brüche bis zur 24. Woche. Das 6-zu-3-Urteil der Richter:innen dieses Supreme Courts kommt keines­wegs „zufällig“ oder über­ra­schend, sondern ist das Ziel jahr­zehn­te­langer Gegen­mo­bi­li­sie­rung von Abtreibungsgegner:innen und gezielter stra­te­gi­scher Prozess­füh­rung. Der Fall von Roe v. Wade bietet zudem ein Para­de­bei­spiel des soge­nannten „Adver­sa­rial Lega­lism“ in den USA, wo gesell­schaft­liche Konflikte zuneh­mend pola­ri­siert („adver­sa­rial“) und poten­ziell entpo­li­ti­siert und statisch verrecht­licht („lega­lism“) werden. Ein Blick auf dieses Phänomen hilft zu erklären, warum der Diskurs um das Abtrei­bungs­recht in den USA heute so radi­ka­li­siert ist. Dem kann man sich am besten nähern, wenn man die Dyna­miken verrecht­lichter Inter­es­sen­po­litik – und das meint Entpo­li­ti­sie­rung – nachvollzieht.

Verrecht­li­chung von Politik

Roe v. Wade wird häufig als beispiel­hafter Fall für die Justi­zia­li­sie­rung von Inter­es­sen­po­litik ange­führt, denn er illus­triert die Dyna­miken und Risiken einer Verrecht­li­chung von gesell­schaft­li­chen Streit­themen. Unter Verrecht­li­chung ist zu verstehen, dass ein gesell­schafts­po­li­ti­sches Inter­esse ins Rechts­system gelenkt wird, also versucht wird, durch Gerichts­ur­teile gesell­schafts­po­li­ti­sche Aufmerk­sam­keit zu erzielen oder im güns­tigsten Fall die gewünschte Recht­spre­chung herbei­zu­führen. Ist ein Konflikt erstmal recht­lich gerahmt, ist es sehr schwierig, ihn wieder in den poli­ti­schen Hand­lungs­raum zurückzuholen.

1973 in den USA, Quelle: wiki.com

Aufgrund der Beson­der­heiten ihres poli­ti­schen Systems sind die USA beson­ders anfällig für den so bezeich­neten „Adver­sa­rial Lega­lism“. Im Fall des Abtrei­bungs­rechts zeigt sich die Dynamik, die entsteht, wenn strit­tige Themen aus dem poli­ti­schen Hand­lungs­raum ins Rechts­system über­führt werden. Zum einen begüns­tigt dies die gesell­schaft­liche Spal­tung mit Blick auf das Thema, weil Geset­zes­ur­teile häufig nur als grund­sätz­lich „rechtens/unrecht“ oder „richtig/falsch“ wahr­ge­nommen werden. Im Fall des Abtrei­bungs­rechts spitzte sich dies etwa auf die Frage zu, ob das Recht der Frauen auf „privacy“, also ihre Selbst­be­stim­mung, über dem des unge­bo­renen Lebens steht, was in der Bildung von „Pro Choice“ und „Pro Life“- Lagern mündete. Zum anderen wird das Thema durch die Verrecht­li­chung entpo­li­ti­siert. Entpo­li­ti­siert bedeutet in diesem Zusam­men­hang, dass es nicht mehr in parla­men­ta­ri­schen Arenen mit ihren Kompro­miss­zwängen bear­beitet wird, sondern in einer stati­schen recht­li­chen Rahmung verbleibt und auch nur im Rahmen des Rechts­sys­tems weiter­ent­wi­ckelt wird. Inter­es­sen­po­li­ti­sche Akteure konzen­trieren sich nicht mehr auf poli­ti­sche Aushand­lung, Ausgleich oder die Suche nach Mehr­heiten, sondern bedienen sich statt­dessen der Rechts­mo­bi­li­sie­rung und stra­te­gi­scher Prozess­füh­rung, um die Gesetz­ge­bung in ihrem Sinne zu beein­flussen. Im Gegen­satz zu anderen Wegen der Inter­es­sen­ver­mitt­lung, die beispiels­weise die Parla­mente, Verwal­tungen oder die Medien adres­sieren, birgt die Verrecht­li­chung von Konflikten daher erheb­liche Risiken, die der Fall Roe v. Wade prägnant veran­schau­licht.

Win in court, loose in society

Stra­te­gi­sche Prozess­füh­rung wurde lange als attrak­tives Instru­ment für margi­na­li­sierte gesell­schaft­liche Gruppen gesehen, die wenig Aussicht haben, poli­ti­sche Mehr­heiten für ihr Anliegen zu mobi­li­sieren, und ist in der US-ameri­ka­ni­schen Bürger­rechts­be­we­gung oder euro­päi­schen Gleich­stel­lungs­po­litik häufig erfolg­reich ange­wandt worden. Aller­dings können Erfolge vor Gericht auch Neben­folgen haben, die nicht inten­diert waren und dem Anliegen mittel- bis lang­fristig schaden, nämlich dann, wenn ein Gerichts­ur­teil bei gesell­schafts­po­li­tisch heiklen Fragen keine gesell­schaft­liche Akzep­tanz findet, denn dies kann eine Gegen­be­we­gung hervor­rufen. Zwar hatte 1973 bereits in einigen Staaten ein Libe­ra­li­sie­rungs­pro­zess des Abtrei­bungs­rechts begonnen, bei Roe v. Wade handelte es sich jedoch um ein „in seiner Deut­lich­keit überraschend[es] und […] hoch­gradig ‚zufällig[es]‘ Urteil“, das für Teile der Gesell­schaft als Schock wahr­ge­nommen wurde und zu einer poli­ti­schen Mobi­li­sie­rung der christ­li­chen Rechten beitrug, die sich zum Ziel setzte, das Urteil rück­gängig zu machen. In den kommenden Jahr­zehnten ließ sich im Fall Roe v. Wade eben jene Pola­ri­sie­rung und Entpo­li­ti­sie­rung beob­achten, die aus justi­zi­eller Inter­es­sen­ver­mitt­lung entstehen kann.

Pola­ri­sie­rung: gesell­schaft­liche Spal­tung und diskur­sive Degeneration

Dass man sich grund­sätz­lich für oder gegen das Gerichts­ur­teil posi­tio­nieren musste, führt zur Pola­ri­sie­rung. Zuse­hends verschwanden die Komple­xität und die lebens­welt­li­chen Impli­ka­tionen des Themas hinter den Schlag­worten der „Selbst­be­stim­mung“ und des „Rechts auf Leben“. Anfangs war die Debatte vor Roe v. Wade noch durch verschie­dene Perspek­tiven und Alli­anzen geprägt, etwa mit Blick auf soziale und gesund­heits­po­li­ti­sche Belange, das Armuts- und Gesund­heits­ri­siko durch unge­wollte Schwan­ger­schaften und die Gefahr ille­galer Abtrei­bungen. Während heute beispiels­weise betont wird, dass ein Abtrei­bungs­verbot margi­na­li­sierte Gruppen und Minder­heiten beson­ders hart trifft, gehörten ihre Interessensvertreter:innen in den 1970ern eher zu den Skeptiker:innen legaler Abtrei­bungen, denn „[it] was charac­te­rized as a method of popu­la­tion control desi­gned to reduce the popu­la­tion of African-Americans or people on public assis­tance“. Das Thema war daher in der poli­ti­schen Linken durchaus umstritten und die Alli­anzen der Befürworter:innen von reli­giösen Gruppen bis zu Bürgerrechtsaktivist:innen bunt gemischt. Die Pola­ri­sie­rung des Themas kana­li­sierte jedoch die Argu­mente in ledig­lich zwei Lager, wovon sich das eine als liberal versteht, während das andere eine christlich-evangelikale, rechts­po­pu­lis­tisch bis offen anti-feministische Haltung aufweist. Mit der recht­lich binären Rahmung der Abtrei­bungs­de­batte ist der Diskurs hinter die Zeit von Roe v. Wade selbst zurück­ge­fallen, da soziale oder gesund­heits­po­li­ti­sche Aspekte oder Fragen des regu­lierten Zugangs kaum noch Gehör finden. Selbst­be­stim­mung im Fall einer Schwan­ger­schaft wird nur noch entweder als voll­stän­dige Entschei­dungs­sou­ve­rä­nität der Frau oder völlige Entmün­di­gung verstanden. Entweder kann sich die Frau in jeder Phase der Schwan­ger­schaft für einen Abbruch entscheiden oder die Austra­gung des Kindes kann in jedem Fall erzwungen werden, selbst bei Verge­wal­ti­gungen, Inzest oder lebens­ge­fähr­denden Gesundheitsrisiken.

Entpo­li­ti­sie­rung: Rechts­mo­bi­li­sie­rung als Stra­tegie der Gegenbewegung

Nach dem Urteil Roe v. Wade 1973 bemühten sich die Gegner:innen darum, das Urteil juris­tisch anzu­fechten und mindes­tens den Zugang zu Abtrei­bungen weitest­mög­lich zu erschweren. Der Konflikt verblieb im Rechts­system und zielte nicht auf parla­men­ta­ri­sche Initia­tiven zum Abtrei­bungs­recht ab. So wurde unter anderem 1992 in einem wich­tigen Fall (Planned Paren­thood v. Casey) zwar die Grund­satz­ent­schei­dung von Roe v. Wade aufrecht­erhalten, aber auch fest­ge­legt, dass staat­liche Regu­lie­rungs­vor­schriften zulässig sind, sofern sie keine „unzu­mut­bare Belas­tung“ für die Frauen darstellen. Diesen dehn­baren Begriff machten die Abtreibungsgegner:innen sich zunutze, um die Hürden zu erhöhen, indem die Gesetz­ge­bung beispiels­weise Frauen zwang, sich den Ultra­schall anzu­sehen und den Fötus beer­digen zu lassen. Im Fall Whole Womens’s Health vs. Heller­stedt wurde versucht über ausstat­tungs­recht­liche Fragen die Anzahl verfüg­barer Kliniken zu mini­mieren und so den Zugang zur medi­zi­ni­schen Abtrei­bung gene­rell zu erschweren. Erklärtes Ziel jedoch war die Abschaf­fung von Roe v. Wade durch eine Neuvor­lage vor einem konser­vativ domi­nierten Supreme Court. Hierfür waren zwei Dinge notwendig, auf die intensiv und ausdau­ernd hinge­ar­beitet wurde: die Unter­stüt­zung repu­bli­ka­ni­scher Präsi­dent­schafts­kan­di­daten, die eine konser­va­tive Beset­zung nach­rü­ckender Richter:innen am Supreme Court verspra­chen, und stra­te­gi­sche Prozess­füh­rungen in den Einzel­staaten, um schließ­lich eine Neuver­hand­lung des Abtrei­bungs­rechts vor dem bundes­staat­li­chen Supreme Court zu erreichen.

Die Heartbeat-Laws und Trumps Supreme Court

Der Diskurs um das Abtrei­bungs­recht hatte eine poli­tisch stark mora­li­sie­rende und mobi­li­sie­rende Wirkung, die im Laufe der Jahre parallel zur poli­ti­schen Spal­tung eine immer konser­va­ti­vere Ausle­gung und deren poli­ti­sche Aneig­nung durch die Repu­bli­ka­ni­sche Partei hervor­rief. Anders als noch zu Amts­zeiten von Bush sen. oder Reagan avan­cierte der Kampf gegen Roe v. Wade zum Teil konser­va­tiver Iden­ti­täts­bil­dung und einem zentralen Wahl­kampf­ver­spre­chen. Auch der Supreme Court selbst blieb von den poli­ti­schen Zentri­fu­gal­kräften nicht unbe­rührt und geriet in den vergan­genen Jahren vor allem unter dem Vorsitz des konser­va­tiven Roberts zuse­hends in den Verdacht der Partei­lich­keit und des juris­ti­schen Akti­vismus. Während das Urteil Roe v. Wade von Rich­tern gefällt und aufrecht­erhalten wurde, die in der Mehr­zahl von repu­bli­ka­ni­schen Präsi­denten ernannt wurden, spal­tete sich der Supreme Court im Laufe der folgenden Jahr­zehnte in konser­va­tive und libe­rale Richter:innen, deren Kompa­ti­bi­lität mit der poli­ti­schen Agenda der regie­renden Partei zum Auswahl­kri­te­rium wurde. Ein wesent­li­ches Krite­rium für die Richter:innenauswahl unter repu­bli­ka­ni­scher Präsi­dent­schaft war die Geneigt­heit der Kandidat:innen, Roe v. Wade zu wider­rufen. Hierfür nahm die christ­liche Rechte, gestärkt durch den Aufstieg der Evan­ge­li­kalen, die Unter­stüt­zung von ansonsten mora­lisch nicht vorzeig­baren Kandi­daten wie Donald Trump in Kauf, in dessen Amts­zeit die konser­va­tive Mehr­heit am Obersten Gericht erreicht wurde.

In der Folge wurden in repu­bli­ka­nisch regierten Bundes­staaten dras­ti­sche Abtrei­bungs­ge­setze erlassen, die in ihrer Schärfe weit über frühere Forde­rungen hinaus­gingen, Die soge­nannten Heartbeat-Laws etwa verbieten Abtrei­bung ab der sechsten Schwan­ger­schafts­woche und treffen teil­weise keine Ausnahmen bei Verge­wal­ti­gung oder Inzest. Hier sticht beson­ders das dysto­pi­sche Gesetz des Bundes­staat Texas hervor, dessen fakti­sches Abtrei­bungs­verbot jeder natür­li­chen Person ermög­licht, Abtrei­bende und Unterstützer:innen – selbst die Taxi­fah­renden zum Kran­ken­haus – als Mittäter:innen zivil­recht­lich für eine Mitwir­kung an einem Schwan­ger­schafts­ab­bruch auf bis zu 10.000 US-Dollar zu verklagen. Der Staat macht mit diesem Gesetz quasi alle Einwohner:innen Texas zu Kopfgeldjäger:innen. Solche Trigger-Laws speku­lierten (erfolg­reich) auf die Klagen von Unterstützer:innen des Abtrei­bungs­rechts,  die letzt­lich unfrei­willig an der Wider­vor­lage vor dem Supreme Court mitwirkten. Die Unterstützer:innen standen in den betref­fenden Staaten vor dem Dilemma, entweder das faktisch erlas­sene Abtrei­bungs­verbot nicht zu bekämpfen, womit allen Einwoh­ne­rinnen verfas­sungs­widrig ihr Recht auf Schwan­ger­schafts­ab­bruch verwehrt worden wäre, oder dagegen juris­tisch vorzu­gehen und eine Wider­vor­lage vor einem unvor­teil­haft besetzten Supreme Court zu riskieren. Mit dem Fall Dobbs vs. Jackson ging diese Stra­tegie letzt­lich auf. Die Jackson Women’s Health Orga­niza­tion klagte gegen ein Gesetz des Staates Missis­sippi, das Schwan­ger­schafts­ab­brüche gegen geltende Recht­spre­chung verboten hätte. Der Fall führte zu einer Wider­vor­lage vor dem Supreme Court und endete in dem Widerruf des Rechts auf Abtrei­bung, das seit fünfzig Jahren bestanden hatte.

Poli­ti­sierte Gerichte und rechts­po­pu­lis­ti­sche Strömungen

Der Fall Roes illus­triert also die Risiken justi­zi­eller Inter­es­sen­ver­mitt­lung. Und zudem fanden die Veren­gung des Diskurses und die Heraus­lö­sung des Themas aus dem poli­ti­schen Aushand­lungs­pro­zess in den USA im Rahmen beson­ders (un)günstiger Begleit­um­stände statt. Der sich zuspit­zende Kampf um das Abtrei­bungs­recht fiel mit einer gesell­schaft­li­chen Spal­tung und dem Erstarken rechts­po­pu­lis­ti­scher Strö­mungen zusammen, in der Anti-Feminismus zum poli­ti­schen Konzept gehört. Es ist denn auch kein Zufall, dass sich paral­lele Entwick­lungen im Abtrei­bungs­recht (aber auch in anderen Gleich­stel­lungs­fragen) im PiS-regierten Polen und Bolso­n­aros Brasi­lien beob­achten lassen. Auch in Polen bediente man sich zur Durch­set­zung des Abtrei­bungs­ver­bots eines geneigten Gerichtes. Nicht zuletzt hier wird deut­lich, dass auf dem Rechtsweg anachro­nis­ti­sche Minder­hei­ten­in­ter­essen durch­ge­setzt werden, die sogar in konser­va­tiven Staaten nicht mehr mehr­heits­fähig sind und der zeit­ge­schicht­li­chen Entwick­lung völlig zuwi­der­laufen. Das belegt der Erfolg der Initia­tiven und Volks­ent­scheide in vormals ultra-konservativen Ländern wie Irland, Chile oder Kolum­bien, wo eine Entkri­mi­na­li­sie­rung von Schwan­ger­schafts­ab­brü­chen erkämpft wurde. Die Entschei­dung des Supreme Courts in den USA spie­gelt eben­falls nicht die Mehr­heits­mei­nung der Bevöl­ke­rung wider, und der juris­ti­sche Sieg ist teuer erkauft, denn der Legi­ti­mi­täts­ver­lust des Supreme Courts durch seine Poli­ti­sie­rung ist erheb­lich. Das Vertrauen in das Oberste Gericht der USA sank nach dem Urteil auf ein histo­ri­sches Tief und hat die Spal­tung entlang der Partei­li­nien noch weiter vertieft. 

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 Eine neue Gegenbewegung?

Inter­es­sen­po­li­tisch gesehen stellt sich nun die Frage nach einer zukünf­tigen Hand­lungs­stra­tegie. Das Bemühen konser­va­tiver Akteure, das verfas­sungs­mä­ßige Recht auf Abtrei­bung über den Rechtsweg wieder zu entziehen, konnte in den USA bereits über einen langen Zeit­raum beob­achtet werden und trotzdem war das Urteil Dobbs v. Jackson ein Schock. Der Entzug eines verfas­sungs­ge­mäßen Rechtes und die Über­stim­mung eines lange­be­stehenden Präze­denz­falls durch das Oberste Gericht war trotz aller poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Entwick­lung eigent­lich unvor­stellbar. Doch was wird daraus folgen?

Die Richter:innen am Supreme Court werden auf Lebens­zeit ernannt, womit der Rechtsweg für die Befür­wor­te­rinnen des Abtrei­bungs­rechts über Jahr­zehnte versperrt bleibt. Ange­sichts der demo­kra­ti­schen Erosi­ons­pro­zesse, der Pola­ri­sie­rung und des derzei­tigen poli­ti­schen Klimas in den USA ist eine natio­nale legis­la­tive Lösung nicht realis­tisch. Die Repu­bli­ka­ni­sche Partei verhin­derte erwar­tungs­gemäß, dass ein entspre­chender Geset­zes­vor­schlag im Kongress über­haupt zur Debatte gestellt wurde. Die Aussichten für die Befürworter:innen des Rechts auf Abtrei­bung fallen eher düster aus. Doch mögli­cher­weise zeichnet sich ein ähnli­ches Phänomen ab, wie schon bei der Urteils­ver­kün­dung Roe v.Wades 1973. Denn die breite Mehr­heit der Amerikaner:innen ist gegen ein rigides Abtrei­bungs­verbot. Die mangelnde gesell­schaft­liche Akzep­tanz des Urteils könnte den Repu­bli­ka­nern an der Wahl­urne noch zum Nach­teil gerei­chen; mögli­cher­weise hat man sich bei dem Thema verschätzt.

2022 in Kansas, Quelle: dw.com

Als Stim­mungs­messer diente hierzu unlängst das Refe­rendum über die Strei­chung des Abtrei­bungs­rechts aus der Verfas­sung des Bundes­staates Kansas. Die deut­liche Mehr­heit für einen Erhalt in dem konser­va­tiven Staat wurde auch durch die repu­bli­ka­ni­schen Wähler:innen aus den länd­li­chen Gebieten mitge­tragen und wurde als über­wäl­ti­gender Erfolg der Befürworter:innen gedeutet. Es bleibt abzu­warten, ob das Abtrei­bungs­recht als Wahl­kampf­thema (auch ange­sichts der derzei­tigen Krisen) ausrei­chend mobi­li­siert, um über Wahlen eine parla­men­ta­ri­sche Verstän­di­gung oder libe­ra­lere Gesetz­ge­bung zu errei­chen. Ob das Thema genug Zugkraft hat, um den poli­ti­schen Triba­lismus im Abstim­mungs­ver­halten zu durch­bre­chen, ist fraglich.

Letzt­lich wird jedoch kaum eine andere Möglich­keit bestehen, als über Wahlen eine Verän­de­rung herbei­zu­führen. Die konser­va­tive Mehr­heit der Richter am Supreme Court hat bereits ange­kün­digt, dass sie weitere Grund­satz­ent­schei­dungen, wie beispiels­weise zur gleich­ge­schlecht­li­chen Ehe eben­falls zu über­denken plant. Weite Teile der Bevöl­ke­rung könnten von einer Insti­tu­tion Grund­rechte entzogen werden, die keinerlei demo­kra­ti­schen Kontrolle unter­liegt; womit nicht nur grund­le­gende Rechte, sondern auch die Legi­ti­mität des Rechts­sys­tems und das Vertrauen in das demo­kra­ti­sche System verloren gehen können. 

Dieser Beitrag entstand in Koope­ra­tion mit gender-blog.de und erschien dort in einer vari­ierten gekürzten Fassung.