Am 24. Juni 2022 kippte die konservative Mehrheit am Supreme Court das Meilensteinurteil Roe v. Wade und beendete damit das fünfzig Jahre geltende Recht auf Abtreibung in den USA. Seit dem Urteil im Fall Roe v. Wade im Jahre 1973 bestand das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche bis zur 24. Woche. Das 6-zu-3-Urteil der Richter:innen dieses Supreme Courts kommt keineswegs „zufällig“ oder überraschend, sondern ist das Ziel jahrzehntelanger Gegenmobilisierung von Abtreibungsgegner:innen und gezielter strategischer Prozessführung. Der Fall von Roe v. Wade bietet zudem ein Paradebeispiel des sogenannten „Adversarial Legalism“ in den USA, wo gesellschaftliche Konflikte zunehmend polarisiert („adversarial“) und potenziell entpolitisiert und statisch verrechtlicht („legalism“) werden. Ein Blick auf dieses Phänomen hilft zu erklären, warum der Diskurs um das Abtreibungsrecht in den USA heute so radikalisiert ist. Dem kann man sich am besten nähern, wenn man die Dynamiken verrechtlichter Interessenpolitik – und das meint Entpolitisierung – nachvollzieht.
Verrechtlichung von Politik
Roe v. Wade wird häufig als beispielhafter Fall für die Justizialisierung von Interessenpolitik angeführt, denn er illustriert die Dynamiken und Risiken einer Verrechtlichung von gesellschaftlichen Streitthemen. Unter Verrechtlichung ist zu verstehen, dass ein gesellschaftspolitisches Interesse ins Rechtssystem gelenkt wird, also versucht wird, durch Gerichtsurteile gesellschaftspolitische Aufmerksamkeit zu erzielen oder im günstigsten Fall die gewünschte Rechtsprechung herbeizuführen. Ist ein Konflikt erstmal rechtlich gerahmt, ist es sehr schwierig, ihn wieder in den politischen Handlungsraum zurückzuholen.

1973 in den USA, Quelle: wiki.com
Aufgrund der Besonderheiten ihres politischen Systems sind die USA besonders anfällig für den so bezeichneten „Adversarial Legalism“. Im Fall des Abtreibungsrechts zeigt sich die Dynamik, die entsteht, wenn strittige Themen aus dem politischen Handlungsraum ins Rechtssystem überführt werden. Zum einen begünstigt dies die gesellschaftliche Spaltung mit Blick auf das Thema, weil Gesetzesurteile häufig nur als grundsätzlich „rechtens/unrecht“ oder „richtig/falsch“ wahrgenommen werden. Im Fall des Abtreibungsrechts spitzte sich dies etwa auf die Frage zu, ob das Recht der Frauen auf „privacy“, also ihre Selbstbestimmung, über dem des ungeborenen Lebens steht, was in der Bildung von „Pro Choice“ und „Pro Life“- Lagern mündete. Zum anderen wird das Thema durch die Verrechtlichung entpolitisiert. Entpolitisiert bedeutet in diesem Zusammenhang, dass es nicht mehr in parlamentarischen Arenen mit ihren Kompromisszwängen bearbeitet wird, sondern in einer statischen rechtlichen Rahmung verbleibt und auch nur im Rahmen des Rechtssystems weiterentwickelt wird. Interessenpolitische Akteure konzentrieren sich nicht mehr auf politische Aushandlung, Ausgleich oder die Suche nach Mehrheiten, sondern bedienen sich stattdessen der Rechtsmobilisierung und strategischer Prozessführung, um die Gesetzgebung in ihrem Sinne zu beeinflussen. Im Gegensatz zu anderen Wegen der Interessenvermittlung, die beispielsweise die Parlamente, Verwaltungen oder die Medien adressieren, birgt die Verrechtlichung von Konflikten daher erhebliche Risiken, die der Fall Roe v. Wade prägnant veranschaulicht.
Win in court, loose in society
Strategische Prozessführung wurde lange als attraktives Instrument für marginalisierte gesellschaftliche Gruppen gesehen, die wenig Aussicht haben, politische Mehrheiten für ihr Anliegen zu mobilisieren, und ist in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung oder europäischen Gleichstellungspolitik häufig erfolgreich angewandt worden. Allerdings können Erfolge vor Gericht auch Nebenfolgen haben, die nicht intendiert waren und dem Anliegen mittel- bis langfristig schaden, nämlich dann, wenn ein Gerichtsurteil bei gesellschaftspolitisch heiklen Fragen keine gesellschaftliche Akzeptanz findet, denn dies kann eine Gegenbewegung hervorrufen. Zwar hatte 1973 bereits in einigen Staaten ein Liberalisierungsprozess des Abtreibungsrechts begonnen, bei Roe v. Wade handelte es sich jedoch um ein „in seiner Deutlichkeit überraschend[es] und […] hochgradig ‚zufällig[es]‘ Urteil“, das für Teile der Gesellschaft als Schock wahrgenommen wurde und zu einer politischen Mobilisierung der christlichen Rechten beitrug, die sich zum Ziel setzte, das Urteil rückgängig zu machen. In den kommenden Jahrzehnten ließ sich im Fall Roe v. Wade eben jene Polarisierung und Entpolitisierung beobachten, die aus justizieller Interessenvermittlung entstehen kann.
Polarisierung: gesellschaftliche Spaltung und diskursive Degeneration
Dass man sich grundsätzlich für oder gegen das Gerichtsurteil positionieren musste, führt zur Polarisierung. Zusehends verschwanden die Komplexität und die lebensweltlichen Implikationen des Themas hinter den Schlagworten der „Selbstbestimmung“ und des „Rechts auf Leben“. Anfangs war die Debatte vor Roe v. Wade noch durch verschiedene Perspektiven und Allianzen geprägt, etwa mit Blick auf soziale und gesundheitspolitische Belange, das Armuts- und Gesundheitsrisiko durch ungewollte Schwangerschaften und die Gefahr illegaler Abtreibungen. Während heute beispielsweise betont wird, dass ein Abtreibungsverbot marginalisierte Gruppen und Minderheiten besonders hart trifft, gehörten ihre Interessensvertreter:innen in den 1970ern eher zu den Skeptiker:innen legaler Abtreibungen, denn „[it] was characterized as a method of population control designed to reduce the population of African-Americans or people on public assistance“. Das Thema war daher in der politischen Linken durchaus umstritten und die Allianzen der Befürworter:innen von religiösen Gruppen bis zu Bürgerrechtsaktivist:innen bunt gemischt. Die Polarisierung des Themas kanalisierte jedoch die Argumente in lediglich zwei Lager, wovon sich das eine als liberal versteht, während das andere eine christlich-evangelikale, rechtspopulistisch bis offen anti-feministische Haltung aufweist. Mit der rechtlich binären Rahmung der Abtreibungsdebatte ist der Diskurs hinter die Zeit von Roe v. Wade selbst zurückgefallen, da soziale oder gesundheitspolitische Aspekte oder Fragen des regulierten Zugangs kaum noch Gehör finden. Selbstbestimmung im Fall einer Schwangerschaft wird nur noch entweder als vollständige Entscheidungssouveränität der Frau oder völlige Entmündigung verstanden. Entweder kann sich die Frau in jeder Phase der Schwangerschaft für einen Abbruch entscheiden oder die Austragung des Kindes kann in jedem Fall erzwungen werden, selbst bei Vergewaltigungen, Inzest oder lebensgefährdenden Gesundheitsrisiken.
Entpolitisierung: Rechtsmobilisierung als Strategie der Gegenbewegung
Nach dem Urteil Roe v. Wade 1973 bemühten sich die Gegner:innen darum, das Urteil juristisch anzufechten und mindestens den Zugang zu Abtreibungen weitestmöglich zu erschweren. Der Konflikt verblieb im Rechtssystem und zielte nicht auf parlamentarische Initiativen zum Abtreibungsrecht ab. So wurde unter anderem 1992 in einem wichtigen Fall (Planned Parenthood v. Casey) zwar die Grundsatzentscheidung von Roe v. Wade aufrechterhalten, aber auch festgelegt, dass staatliche Regulierungsvorschriften zulässig sind, sofern sie keine „unzumutbare Belastung“ für die Frauen darstellen. Diesen dehnbaren Begriff machten die Abtreibungsgegner:innen sich zunutze, um die Hürden zu erhöhen, indem die Gesetzgebung beispielsweise Frauen zwang, sich den Ultraschall anzusehen und den Fötus beerdigen zu lassen. Im Fall Whole Womens’s Health vs. Hellerstedt wurde versucht über ausstattungsrechtliche Fragen die Anzahl verfügbarer Kliniken zu minimieren und so den Zugang zur medizinischen Abtreibung generell zu erschweren. Erklärtes Ziel jedoch war die Abschaffung von Roe v. Wade durch eine Neuvorlage vor einem konservativ dominierten Supreme Court. Hierfür waren zwei Dinge notwendig, auf die intensiv und ausdauernd hingearbeitet wurde: die Unterstützung republikanischer Präsidentschaftskandidaten, die eine konservative Besetzung nachrückender Richter:innen am Supreme Court versprachen, und strategische Prozessführungen in den Einzelstaaten, um schließlich eine Neuverhandlung des Abtreibungsrechts vor dem bundesstaatlichen Supreme Court zu erreichen.
Die Heartbeat-Laws und Trumps Supreme Court
Der Diskurs um das Abtreibungsrecht hatte eine politisch stark moralisierende und mobilisierende Wirkung, die im Laufe der Jahre parallel zur politischen Spaltung eine immer konservativere Auslegung und deren politische Aneignung durch die Republikanische Partei hervorrief. Anders als noch zu Amtszeiten von Bush sen. oder Reagan avancierte der Kampf gegen Roe v. Wade zum Teil konservativer Identitätsbildung und einem zentralen Wahlkampfversprechen. Auch der Supreme Court selbst blieb von den politischen Zentrifugalkräften nicht unberührt und geriet in den vergangenen Jahren vor allem unter dem Vorsitz des konservativen Roberts zusehends in den Verdacht der Parteilichkeit und des juristischen Aktivismus. Während das Urteil Roe v. Wade von Richtern gefällt und aufrechterhalten wurde, die in der Mehrzahl von republikanischen Präsidenten ernannt wurden, spaltete sich der Supreme Court im Laufe der folgenden Jahrzehnte in konservative und liberale Richter:innen, deren Kompatibilität mit der politischen Agenda der regierenden Partei zum Auswahlkriterium wurde. Ein wesentliches Kriterium für die Richter:innenauswahl unter republikanischer Präsidentschaft war die Geneigtheit der Kandidat:innen, Roe v. Wade zu widerrufen. Hierfür nahm die christliche Rechte, gestärkt durch den Aufstieg der Evangelikalen, die Unterstützung von ansonsten moralisch nicht vorzeigbaren Kandidaten wie Donald Trump in Kauf, in dessen Amtszeit die konservative Mehrheit am Obersten Gericht erreicht wurde.
In der Folge wurden in republikanisch regierten Bundesstaaten drastische Abtreibungsgesetze erlassen, die in ihrer Schärfe weit über frühere Forderungen hinausgingen, Die sogenannten Heartbeat-Laws etwa verbieten Abtreibung ab der sechsten Schwangerschaftswoche und treffen teilweise keine Ausnahmen bei Vergewaltigung oder Inzest. Hier sticht besonders das dystopische Gesetz des Bundesstaat Texas hervor, dessen faktisches Abtreibungsverbot jeder natürlichen Person ermöglicht, Abtreibende und Unterstützer:innen – selbst die Taxifahrenden zum Krankenhaus – als Mittäter:innen zivilrechtlich für eine Mitwirkung an einem Schwangerschaftsabbruch auf bis zu 10.000 US-Dollar zu verklagen. Der Staat macht mit diesem Gesetz quasi alle Einwohner:innen Texas zu Kopfgeldjäger:innen. Solche Trigger-Laws spekulierten (erfolgreich) auf die Klagen von Unterstützer:innen des Abtreibungsrechts, die letztlich unfreiwillig an der Widervorlage vor dem Supreme Court mitwirkten. Die Unterstützer:innen standen in den betreffenden Staaten vor dem Dilemma, entweder das faktisch erlassene Abtreibungsverbot nicht zu bekämpfen, womit allen Einwohnerinnen verfassungswidrig ihr Recht auf Schwangerschaftsabbruch verwehrt worden wäre, oder dagegen juristisch vorzugehen und eine Widervorlage vor einem unvorteilhaft besetzten Supreme Court zu riskieren. Mit dem Fall Dobbs vs. Jackson ging diese Strategie letztlich auf. Die Jackson Women’s Health Organization klagte gegen ein Gesetz des Staates Mississippi, das Schwangerschaftsabbrüche gegen geltende Rechtsprechung verboten hätte. Der Fall führte zu einer Widervorlage vor dem Supreme Court und endete in dem Widerruf des Rechts auf Abtreibung, das seit fünfzig Jahren bestanden hatte.
Politisierte Gerichte und rechtspopulistische Strömungen
Der Fall Roes illustriert also die Risiken justizieller Interessenvermittlung. Und zudem fanden die Verengung des Diskurses und die Herauslösung des Themas aus dem politischen Aushandlungsprozess in den USA im Rahmen besonders (un)günstiger Begleitumstände statt. Der sich zuspitzende Kampf um das Abtreibungsrecht fiel mit einer gesellschaftlichen Spaltung und dem Erstarken rechtspopulistischer Strömungen zusammen, in der Anti-Feminismus zum politischen Konzept gehört. Es ist denn auch kein Zufall, dass sich parallele Entwicklungen im Abtreibungsrecht (aber auch in anderen Gleichstellungsfragen) im PiS-regierten Polen und Bolsonaros Brasilien beobachten lassen. Auch in Polen bediente man sich zur Durchsetzung des Abtreibungsverbots eines geneigten Gerichtes. Nicht zuletzt hier wird deutlich, dass auf dem Rechtsweg anachronistische Minderheiteninteressen durchgesetzt werden, die sogar in konservativen Staaten nicht mehr mehrheitsfähig sind und der zeitgeschichtlichen Entwicklung völlig zuwiderlaufen. Das belegt der Erfolg der Initiativen und Volksentscheide in vormals ultra-konservativen Ländern wie Irland, Chile oder Kolumbien, wo eine Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen erkämpft wurde. Die Entscheidung des Supreme Courts in den USA spiegelt ebenfalls nicht die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung wider, und der juristische Sieg ist teuer erkauft, denn der Legitimitätsverlust des Supreme Courts durch seine Politisierung ist erheblich. Das Vertrauen in das Oberste Gericht der USA sank nach dem Urteil auf ein historisches Tief und hat die Spaltung entlang der Parteilinien noch weiter vertieft.
Eine neue Gegenbewegung?
Interessenpolitisch gesehen stellt sich nun die Frage nach einer zukünftigen Handlungsstrategie. Das Bemühen konservativer Akteure, das verfassungsmäßige Recht auf Abtreibung über den Rechtsweg wieder zu entziehen, konnte in den USA bereits über einen langen Zeitraum beobachtet werden und trotzdem war das Urteil Dobbs v. Jackson ein Schock. Der Entzug eines verfassungsgemäßen Rechtes und die Überstimmung eines langebestehenden Präzedenzfalls durch das Oberste Gericht war trotz aller politischen und gesellschaftlichen Entwicklung eigentlich unvorstellbar. Doch was wird daraus folgen?
Die Richter:innen am Supreme Court werden auf Lebenszeit ernannt, womit der Rechtsweg für die Befürworterinnen des Abtreibungsrechts über Jahrzehnte versperrt bleibt. Angesichts der demokratischen Erosionsprozesse, der Polarisierung und des derzeitigen politischen Klimas in den USA ist eine nationale legislative Lösung nicht realistisch. Die Republikanische Partei verhinderte erwartungsgemäß, dass ein entsprechender Gesetzesvorschlag im Kongress überhaupt zur Debatte gestellt wurde. Die Aussichten für die Befürworter:innen des Rechts auf Abtreibung fallen eher düster aus. Doch möglicherweise zeichnet sich ein ähnliches Phänomen ab, wie schon bei der Urteilsverkündung Roe v.Wades 1973. Denn die breite Mehrheit der Amerikaner:innen ist gegen ein rigides Abtreibungsverbot. Die mangelnde gesellschaftliche Akzeptanz des Urteils könnte den Republikanern an der Wahlurne noch zum Nachteil gereichen; möglicherweise hat man sich bei dem Thema verschätzt.

2022 in Kansas, Quelle: dw.com
Als Stimmungsmesser diente hierzu unlängst das Referendum über die Streichung des Abtreibungsrechts aus der Verfassung des Bundesstaates Kansas. Die deutliche Mehrheit für einen Erhalt in dem konservativen Staat wurde auch durch die republikanischen Wähler:innen aus den ländlichen Gebieten mitgetragen und wurde als überwältigender Erfolg der Befürworter:innen gedeutet. Es bleibt abzuwarten, ob das Abtreibungsrecht als Wahlkampfthema (auch angesichts der derzeitigen Krisen) ausreichend mobilisiert, um über Wahlen eine parlamentarische Verständigung oder liberalere Gesetzgebung zu erreichen. Ob das Thema genug Zugkraft hat, um den politischen Tribalismus im Abstimmungsverhalten zu durchbrechen, ist fraglich.
Letztlich wird jedoch kaum eine andere Möglichkeit bestehen, als über Wahlen eine Veränderung herbeizuführen. Die konservative Mehrheit der Richter am Supreme Court hat bereits angekündigt, dass sie weitere Grundsatzentscheidungen, wie beispielsweise zur gleichgeschlechtlichen Ehe ebenfalls zu überdenken plant. Weite Teile der Bevölkerung könnten von einer Institution Grundrechte entzogen werden, die keinerlei demokratischen Kontrolle unterliegt; womit nicht nur grundlegende Rechte, sondern auch die Legitimität des Rechtssystems und das Vertrauen in das demokratische System verloren gehen können.
Die Demokratie in den USA gerät immer mehr unter Druck, umso dringlicher wäre es in Europa eine gemeinsame Aussen- Wirtschafts- und Verteidigungspolitik zu entwickeln.
Aber solange in Brüssel nur einstimmig abgestimmt und beschlossen werden kann wird die EU politisch nur ein sehr schwaches Bild abgeben, leider.