"Katapher gendert, Scheller nur punktuell“: Jörg Scheller und Katapher haben auf twitter über das Gendern diskutiert. Herausgekommen ist ein Gespräch mit vielen Zwischentönen und ein paar kritisch-pragmatischen Anregungen für die Kommunikationspraxis.

  • Katapher

    Katapher ist Linguistin (der Name ist der Redaktion bekannt).
  • Jörg Scheller

    Jörg Scheller ist Professor für Kunstgeschichte an der Zürcher Hochschule der Künste. Er schreibt regelmäßig Beiträge unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung, DIE ZEIT, frieze magazine und ist Kolumnist der Stuttgarter Zeitung. Bereits als 14-Jähriger stand er mit einer Metalband auf der Bühne. Heute betreibt er einen Heavy Metal Lieferservice mit dem Metal-Duo Malmzeit. Nebenbei ist Scheller zertifizierter Fitnesstrainer. www.joergscheller.de

Dies ist ein Text, wie ihn nur das Inter­net­zeit­alter hervor­bringen kann. Wir, eine studierte Lingu­istin und Lektorin, die unter dem Pseud­onym Kata­pher bloggt, und der Kunst­his­to­riker Jörg Scheller, sind einander nie im physi­schen Raum begegnet. Wir kennen uns von Twitter, wo wir zu jenen zählen, die nicht nur infor­mieren oder hyper­ven­ti­lieren, sondern auch ernst­haft mit Anderen disku­tieren. Zu den Themen, die die Netz­öf­fent­lich­keit und das Feuil­leton umtreiben wie wenige andere, zählt das Verhältnis von Gender und Sprache. Der vorlie­gende Text ist ein Destillat unserer mehr­jäh­rigen Diskus­sionen über dieses Thema. Im Folgenden geht es nicht ums entrückte „Prinzip“ oder um Kultur­kampf, sondern um kritisch-pragmatische Anre­gungen für die Kommu­ni­ka­ti­ons­praxis – darum, was in konkreten Situa­tionen sinn­voll ist und was nicht. Obwohl wir in manchen Punkten ausein­an­der­liegen – Kata­pher gendert, Scheller nur punk­tuell – sind wir uns einig, dass Sprach­wandel kein Top-Down-Prozess sein darf. Substan­zi­elle Verän­de­rung findet durch substan­zi­elle Einsichten, nicht durch Dekrete von oben oder Nudging statt. Vor allem aber setzt er Willen zu Plura­lität und freiem Austausch trotz Diffe­renzen voraus. Menschen tauschen sich nicht in einer gemein­samen Welt aus. Die gemein­same Welt entsteht im Austausch. 

Kata­pher: Unser Beitrag erscheint zuge­ge­be­ner­maßen etwas zur Unzeit, da der Wieder­ho­lungs­zwang bei Twit­ter­de­batten bei diesem Thema einen gewissen Ad-Nauseam-Punkt erreicht hat. Viel­leicht gelingt es uns beiden dennoch, mit diesem Text etwas zur Auflo­cke­rung der verhär­teten Fronten beizu­tragen. Ich möchte zunächst kurz die verschie­denen Arten des Genderns erläu­tern, damit wir einen guten Ausgangs­punkt für das Gespräch haben. Manche Optionen zum Gendern sind seit geraumer Zeit in unserer Sprache vorhanden, z.B. die Movie­rung, also die Ablei­tung der weib­li­chen Formen, andere sind relativ neu, wie das Gendern mit Sonder­zei­chen, zu denen die soge­nannten Gapzei­chen gehören (Stern­chen, Doppel­punkt, Unter­strich etc.), die mit einem Glot­tis­schlag versprach­licht werden können. Des Weiteren müssen zwei Rich­tungen beim Gendern unter­schieden werden: Man kann entweder die Sexus­zu­ge­hö­rig­keit anzeigen oder sexus­neu­tral formu­lieren. Wenn ich Perso­nen­be­zeich­nungen moviere, hänge ich dort eine femi­nine Endung an, z.B. Lehrer – Lehrerin. Wenn ich zusätz­lich zu der Movie­rung ein Gapzei­chen verwende, verweise ich damit auf die Exis­tenz weiterer mögli­cher Geschlechter, z.B. Lehrer*in. Die Gapzei­chen werden dabei als Platz­halter verstanden. Weib­liche Ablei­tungen dienen dazu, die Sexus­zu­ge­hö­rig­keit anzu­zeigen. Man kann aber auch sexus­neu­tral formu­lieren. Dafür können bestimmte Suffixe (Endungen) verwendet werden, z.B. Lehr­kräfte, oder auch nomi­na­li­sierte Parti­zi­pien, z.B. Lehrende.

Nun kommen wir zum Knack­punkt, um den sich alle Gender­de­batten drehen: Ist das gene­ri­sche Masku­linum sexus­neu­tral oder nicht? Einige halten es für gänz­lich sexus­neu­tral, andere bestreiten, dass es über­haupt gene­risch sei, und halten es für ein sexus­be­zo­genes Masku­linum. Der Rest verteilt sich irgendwo zwischen diesen beiden Polen. Selbst wenn man dem Masku­linum gene­ri­sches Poten­zial zuspricht, gibt es immer noch das Problem, dass es homonym (gleich­lau­tend) mit dem sexus­be­zo­genen Masku­linum ist. Gene­ri­zität ist eine Abstrak­ti­ons­leis­tung und prin­zi­piell eine gute Möglich­keit, allge­meine Aussagen über Mitglieder einer Gruppe zu treffen, ohne auf ihr Geschlecht zu verweisen. Es ist eben­jene Homony­mität, die die Probleme verur­sacht, nicht die Gene­ri­zität. Einer der heftigsten Streit­punkte dabei ist die Frage, ob es eine seman­ti­sche Verbin­dung zwischen Genus und Sexus gibt und – wenn ja – wie eng diese ist. Eine grund­sätz­liche Frage, die sich daran anschließt, ist folgende: Was ist besser in puncto Förde­rung der Gleich­be­rech­ti­gung – alle Geschlechter in der Sprache anzeigen oder die Verwen­dung sexus­neu­traler Formu­lie­rungen (außer in Kontexten, in denen das Geschlecht tatsäch­lich rele­vant ist)? Alle diese Punkte werden in den aktu­ellen Debatten unter dem Schlag­wort Gendern verhan­delt. Ich beob­achte schon seit längerer Zeit, dass die Diskus­sionen um das Thema Gendern häufig auf die Verwen­dung von Gapzei­chen und Glot­tis­schlag verengt werden. Aller­dings wird das oft nicht klar kommu­ni­ziert und es kommt zu vermeid­baren Missverständnissen.

Scheller: Ich nehme das Thema „Gender und Sprache“ ernst, da es keine mensch­liche Welt ohne Kommu­ni­ka­tion gibt – wobei die verbale nur eine Form derselben ist! Und über Sprache nach­zu­denken, mit ihr zu expe­ri­men­tieren, ist in jedem Fall span­nend. Aber ich bin über­zeugt, dass nicht nur die Sprache die Welt, sondern auch die Welt die Sprache verän­dert. Mein Haupt­au­gen­merk gilt letz­terem, gerade mit Blick auf das grund­satz­dis­kus­si­ons­ver­liebte und rege­lungs­fi­xierte Deutsch­land. Nele Pollat­schek hat es einmal auf den Punkt gebracht: „Deutsch­land ist euro­päi­scher Über-geschlechtergerechte-Sprache-reden-Meister, niemand redet so viel über geschlech­ter­ge­rechte Sprache wie wir, und gleich­zeitig haben wir die zweit­höchste Gender Pay Gap in Europa.“ Erschwe­rend kommt hinzu, dass kaum jemand so viel über Gendern redet wie die Gegner der neuen Formen des Genderns! Grund für meinen Schwer­punkt ist aber auch die Skepsis mir selbst gegen­über. Wir akade­mi­schen Wort­schmiede neigen zur Selbst­über­schät­zung. Unein­ge­standen wandeln wir in den Fußstapfen Gottes, wenn wir durch Sprache Wirk­lich­keit zu schaffen versu­chen. Im besten Fall geben wir leben­dige, origi­nelle Vorbilder, keine eltern­haften Vorgaben. In der Popkultur funk­tio­niert das sehr gut. Wenn beispiels­weise Rapper wie Ice-T oder Nicki Minaj neue Wort­schöp­fungen lancieren, dann greifen Fans diese auf, weil es sie über­zeugt, weil sie Spass daran haben, weil es neu und sexy ist – so verbreiten sich neue Sprech­weisen. Wenn das Vor-Bild aber zur Vor-Schrift durch Behörden, Lehr­stühle, Firmen­zen­tralen & Co. wird, hat die Sache eine andere Dimen­sion. Zudem erachte ich das Verhältnis Sprache-Welt als zutiefst ambi­va­lent, ja als ironisch. Im Türki­schen etwa gibt es kein Genus, aber in der Türkei ein Patri­ar­chat. Im Polni­schen werden gar Verben bei der Vergan­gen­heits­bil­dung gegen­dert, aber sind Frauen dort besser­ge­stellt als etwa in Deutsch­land? Nicht, dass ich wüsste.  Vor dem Hinter­grund mangel­hafter wissen­schaft­li­cher Evidenz, was die Präge­kraft des Symbo­li­schen auf das Reale betrifft, plädiere ich für einen gelas­senen, spie­le­ri­schen und vor allem frei­heit­li­chen Umgang mit Sprache. Leit­fäden, Sprach­re­gle­mente, das ist so höfisch – eine massen­de­mo­kra­ti­sche Form der Panegyrik. 

Kata­pher: Ich habe ein zwie­späl­tiges Verhältnis zu konstruk­ti­vis­ti­schen Ansätzen, die von einer sprach­li­chen Konstruk­tion der Wirk­lich­keit ausgehen. Es gibt zum Beispiel Strö­mungen in der femi­nis­ti­schen Sprach­wis­sen­schaft, die der lingu­is­ti­schen Rela­ti­vi­täts­theorie folgen, welche besagt, dass die Sprache das Denken deter­mi­niert und – in ihrer starken Vari­ante – sogar Denken und Erkenntnis außer­halb der Sprache negiert. Die modernen Vari­anten dieser These sind jedoch gemä­ßigter. Bei denje­nigen, die das Gendern ablehnen, finden sich eben­falls einige, die deter­mi­nis­ti­schen Vorstel­lungen folgen, was sie durch häufige Verweise auf George Orwells Roman 1984 und die fiktio­nale Sprache News­peak kundtun, die eine nicht realis­ti­sche Verar­bei­tung der lingu­is­ti­schen Rela­ti­vi­täts­theorie in ihrer starken Vari­ante darstellt. Die Diskus­sionen um das Thema Gendern zeigen, dass sich Vertre­te­rinnen und Vertreter dieser Theorie trotz der vermeint­li­chen Macht der Sprache über das Denken jeweils selbst ein höheres Maß an außer­sprach­li­cher Erkennt­nis­fä­hig­keit und somit größeres Wissen zuschreiben, was Ulrike Winkel­mann in ihrem Artikel Sprache als Expe­ri­ment zu Recht als „grund­le­genden Wider­spruch der Sprach­kritik“ bezeichnet. Dies ist einer der Gründe, warum die Diskus­sionen um das Thema Gendern so oft eska­lieren. Ein anderer ist, dass sie eng an identitäts­po­li­ti­sche Debatten gekop­pelt sind, was ihnen zusätz­liche Spreng­kraft verleiht.

Scheller: Tenden­ziell versuche ich, Iden­ti­täts­marker zu redu­zieren, statt zu plura­li­sieren, da wir in einer Zeit leben, die sehr gut ist im Iden­ti­fi­zieren, aber nicht im Imagi­nieren. Je stärker Iden­ti­täten kodi­fi­ziert werden, desto skep­ti­scher werde ich. Konkret bedeutet das zum Beispiel: Juris­ti­sche Personen zu gendern ist unnötig. „Der Vorstand“ ist ein Organ, kein Mensch. In Geset­zes­texten wiederum genügt der Verweis, dass alle Geschlechter gemeint sind. So erspart man sich Aufwand, aber auch recht­liche Grau­zonen. Immerhin urteilte das Bundes­ge­richt 1887, in der Bundes­ver­fas­sung seien Frauen bei „Schwei­zern“ nicht mitge­meint, was das Aktiv­bür­ger­recht betrifft. Pech für die Juristin Emilie Kempin-Spyri, die deshalb kein Anwalts­pa­tent erhielt. 

Kata­pher: Dieses Beispiel zeigt das Miss­brauchs­po­ten­tial der Homony­mität von gene­ri­schem und sexus­be­zo­genem Masku­linum. Sie wurde ausge­nutzt, um Frauen den Zugang zu bestimmten Berei­chen zu verwehren, wie man an der Episode um Emilie Kempin-Spyri sieht. An dieser Stelle stellt sich aller­dings auch die Frage, ob das in dieser Form heute noch möglich wäre. Die Rück­wärts­rolle bei Frau­en­rechten überall auf der Welt hat mich aller­dings inzwi­schen vorsichtig werden lassen bei solchen Prognosen und ich kann gut verstehen, dass man diesem Miss­brauchs­po­ten­tial ein für alle Mal den Riegel vorschieben möchte.

Scheller: In der Alltags­kom­mu­ni­ka­tion oder in der Bericht­erstat­tung ist Abwä­gung geboten. Sage ich etwa: „In der Schweiz zahlen Studenten geringe Studi­en­ge­bühren“, so ist durch den Kontext klar, dass dies für alle Geschlechter gilt. Zu behaupten, „Studenten“ schlösse aus, erzeugt ein Schein­pro­blem. In bestimmten Situa­tionen aber kann es sinn­voll sein, „Studen­tinnen und Studenten“ zu sagen. Berichten etwa Jour­na­listen über eine Abstim­mung, so ist es von Inter­esse zu wissen, ob Männer wie auch Frauen oder Non-Binäre teil­nahmen. Das nomi­na­li­sierte Partizip „Studie­rende“ wäre dann nicht ziel­füh­rend, da explizit Männer und Frauen betont werden sollen. Aber grund­sätz­lich ist „Studie­rende“ eher unpro­ble­ma­tisch und im Deut­schen übri­gens seit langem bekannt.

Kata­pher: Nomi­na­li­sierte Parti­zi­pien, wie Studie­rende, können neben simul­tanen auch habi­tu­elle Tätig­keiten ausdrü­cken. Es wird zwar immer wieder behauptet, sie würden ausschließ­lich das seman­ti­sche Merkmal der Gleich­zei­tig­keit besitzen, aber das kann anhand lexi­ka­li­sierter Formen mit habi­tu­eller Lesart wie Allein­er­zie­hende, Abge­ord­nete, Vorsit­zende etc. wider­legt werden. 

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Scheller: Während das Partizip neutra­li­siert, hat der Gender­stern eine andere Wirkung. Als Nicht-Buchstabe wirkt er auf mich im Schrift­bild wie ein unfrei­willig exoti­sie­render Fremd­körper und verwischt zudem die Grenze zwischen Buch­staben und Satz­zei­chen, stellt externe poli­ti­sche Logik über interne Logik der Sprache. In der gespro­chenen Sprache wiederum ist er eine bloße Leer­stelle, nicht kongruent mit den anderen Zeichen. Beides miss­fällt mir – die Gemeinten sind doch keine Leer­stellen! Mitunter entstehen auch neue Miss­ver­ständ­nisse. Neulich las ich: „deut­sche Ministerpräsident*innen“. Meines Wissens bekleiden in Deutsch­land keine Non-Binären das frag­liche Amt. Hier ist der Gebrauch des Inklu­si­ons­mar­kers über­eifrig, wenn nicht irre­füh­rend. Kürz­lich schrieb ich in einem Text: „Die Kura­toren Frau­en­name und Männer­name haben …“. Die Lektorin formu­lierte um: „Die Kurator*innen Frau­en­name und Männer­name …“ Ich lehnte die Ände­rung ab, denn hier wird ein Schein­pro­blem konstru­iert. Solange die Ableh­nung akzep­tiert wird – meinet­wegen. Aber man merkt: Bei den gerade genannten Fällen ist die Nicht-Verwendung des Gender­sterns mitt­ler­weile begrün­dungs­pflichtig und erfor­dert teils inten­sive Diskus­sionen, bis hin zu Disclai­mern, dass und warum der Autor den Gender­stern nicht verwendet (auch das war in einem Text von mir schon der Fall). Es ist durchaus denkbar, dass künftig Autoren bevor­zugt werden, die die neuen Normen erfüllen – nicht durch direkte Verbote und Gebote, sondern durch das, was Gilles Deleuze „Kontroll­ge­sell­schaft“ nannte, also durch Zugang zu bestimmten Ressourcen und Möglich­keiten. Genauso illi­beral wäre es aber, Autoren die Verwen­dung des Gender­sterns zu unter­sagen oder sie unaus­ge­spro­chen auszu­grenzen, indem man einfach keine Aufträge an sie vergibt.

Unab­hängig davon lässt sich sagen: Eine Qualität von Sprache besteht auch darin, unprä­zise zu sein. Versucht man, die Wirk­lich­keit eins zu eins in Sprache abzu­bilden, verwech­selt man Karte mit Gebiet. Prag­ma­tismus ist ange­bracht. Das gene­ri­sche Masku­linum ist histo­risch gewachsen, nicht mit dem biolo­gi­schen oder sozialen Geschlecht iden­tisch, in vielen patri­ar­chalen Gesell­schaften nicht gebräuch­lich und verur­sacht im Deut­schen oft keine Probleme – sicher­lich nicht mehr als das gene­ri­sche Femi­ninum, welches teils sogar in der SRF-Tages­schau verwendet wird (bspw. „Bäue­rinnen“, wenn der Berufs­stand „Bauer“ gemeint ist). Offenbar soll durch das gene­ri­sche Femi­ninum der männ­lich domi­nierte Beruf für Frauen attrak­tiver werden. In der Tat mag es Kontexte geben, in denen es ange­bracht ist, Frauen explizit anzu­spre­chen, etwa in Stel­len­aus­schrei­bungen. So ist es möglich, dass sich durch Formu­lie­rungen wie „wir suchen eine Manager*in“ Frauen und Dritt­ge­schlecht­liche eher ange­spro­chen fühlen. Aber die zugrunde liegende Logik lässt sich schwer­lich gene­ra­li­sieren. Sagt man nur „Verbre­cher“, um Männer zu Verbre­chen zu moti­vieren? Eher nicht. Wenn es heißt: Wir sollten stets „Chef*innen“ schreiben und sagen, damit sich alle ange­spro­chen fühlen und mehr Frauen oder nicht-binäre Menschen Chef werden, gilt dasselbe auch für „Verbrecher*innen“? Soll mit ein und derselben sprach­po­li­ti­schen Inter­ven­tion einmal Wirk­lich­keit erzeugt, einmal ‚nur‘ beschrieben werden? Diese Art der Sprach­po­litik ist inko­hä­rent; sie neigt dazu, perfor­ma­tive Sprech­akte zu verab­so­lu­tieren und sie zugleich nicht zu Ende zu denken. In denje­nigen Fällen, wo das gene­ri­sche Masku­linum eindeutig irre­füh­rend oder miss­ver­ständ­lich ist, sollten aber tatsäch­lich Alter­na­tiven genutzt werden. Oder man setzt einfach auf heiter-absurdistisches Anarcho-Gendern nach Hermes Phett­berg, der „y“ oder „ys“ an Substan­tive pappt: Studentys, Arbeitys, Journalistys …

Kata­pher: Das sehe ich in einem Punkt anders. Die Movie­rung (weib­liche Ablei­tung) ist eben­falls histo­risch gewachsen und obwohl das biolo­gi­sche Geschlecht nicht mit dem gram­ma­ti­schen iden­tisch ist, scheint bei Perso­nen­be­zeich­nungen zwischen ihnen eine seman­ti­sche Verbin­dung zu bestehen, sonst wäre es schwer erklärbar, warum die Sexus­spe­zi­fi­zie­rung bei nomi­na­li­sierten Adjek­tiven über den defi­niten Artikel erfolgt (der Reiche/die Reiche, der Alte/die Alte etc.). Über die Enge und Weite dieser Verbin­dung kann man aller­dings disku­tieren und wenn Genus und Sexus in eins gesetzt werden, dann wird damit auch die Möglich­keit der Geschlechts­abs­trak­tion negiert, die aber durchaus gegeben ist. Beide Seiten neigen dazu, Forschungs­er­geb­nisse zu verab­so­lu­tieren und sich nicht allzu genau mit der Sprach­ge­schichte zu beschäf­tigen – sowohl bei der Movie­rung als auch bei dem gene­ri­schen Masku­linum. Beide wurden nicht am grünen Tisch beschlossen oder per Dekret verordnet, sondern sind das Ergebnis von Sprach­wan­del­pro­zessen und exis­tieren schon seit geraumer Zeit. Beim Agens­suffix -er lässt sich beob­achten, wie ihm im Laufe der Zeit abwech­selnd das Poten­zial zur Bildung gene­ri­scher oder männ­li­cher Perso­nen­be­zeich­nungen zuge­spro­chen wurde. Aus der Distanz betrachtet rela­ti­viert sich hier einiges. Aktuell schlägt das Pendel wieder Rich­tung Sexus­bezug aus und damit ins 18. Jahr­hun­dert zurück. Genau deswegen halte ich nichts von sprach­po­li­ti­schen Eingriffen – sowohl in die eine Rich­tung (Gendern vorschreiben) als auch in die andere Rich­tung (Gendern verbieten). Dafür sind zu viele Fragen offen. Das betrifft unter anderem die psycho­lin­gu­is­ti­schen Expe­ri­mente und Studien zur Verar­bei­tung des gene­ri­schen Masku­li­nums. Dazu wurde ange­merkt, dass bei ihnen oft nicht der gene­ri­sche Gebrauch unter­sucht wurde, sondern der spezi­fi­sche, bei dem eine Anzeige der Sexus­zu­ge­hö­rig­keit üblich sei. Zudem seien sprach­liche Kontexte und außer­sprach­liche Faktoren zu wenig berück­sich­tigt worden. Weitere Kritik­punkte betreffen z.B. die Inter­pre­ta­tion der Ergeb­nisse. Deshalb sollten die kommu­ni­zierten Ergeb­nisse dieser Expe­ri­mente nicht verab­so­lu­tiert werden. Auch bei der Frage nach der Verträg­lich­keit von Sonder­zei­chen mit barrie­re­freier Kommu­ni­ka­tion gibt es unge­löste Probleme (nicht nur bei den Screen­rea­dern), die jedoch weit­ge­hend igno­riert werden, weil behin­derte Menschen keine große Lobby besitzen und Themen wie geringe Lese­kom­pe­tenzen sowie Lese­recht­schreib­schwäche zu wenig Beach­tung finden. Neben der sprach­li­chen Reprä­sen­ta­tion ist eben auch der grund­sätz­liche Zugang zu Texten von Bedeu­tung. 

Scheller: Viel­leicht nähern wir uns in Fragen der Sprach­po­litik einem ähnli­chen Span­nungs­ver­hältnis wie dem im 19. Jahr­hun­dert zwischen anti­au­to­ri­tärem Anar­chismus oder liber­tärem Sozia­lismus einer­seits, staats­so­zia­lis­ti­schem Marxismus und konsti­tu­ierter Macht ande­rer­seits. Begleitet, wie üblich, von Gegen­re­ak­tionen aus dem Spek­trum vom skeptisch-liberalen Konser­va­tismus bis hin zum aggres­siven, ressen­ti­ment­be­la­denen Regres­sismus – die Vertreter des letz­teren sind dieje­nigen, die heute „Gender­wahn!“ rufen, noch bevor sie wissen, was „Gender“ über­haupt bedeutet. Es wäre in jedem Fall inter­es­sant zu sehen, welche Vari­anten sich durch­setzen, wenn keine sprach­po­li­ti­sche Beein­flus­sung in Form von Leit­fäden oder Richt­li­nien an Arbeits­plätzen, Univer­si­täten etc. exis­tiert. Wenn sich Sprache also durch zivil­ge­sell­schaft­liche Ener­gien weiter­ent­wi­ckelte, durch über­zeu­gende Vorbilder und konti­nu­ier­liche Alltags­praxis, nicht zuletzt auch durch spie­le­ri­sche Offen­heit bei gleich­zei­tiger dialo­gi­scher Suche nach Klar­heit. Wir sollten den Versuch wagen.