Dies ist ein Text, wie ihn nur das Internetzeitalter hervorbringen kann. Wir, eine studierte Linguistin und Lektorin, die unter dem Pseudonym Katapher bloggt, und der Kunsthistoriker Jörg Scheller, sind einander nie im physischen Raum begegnet. Wir kennen uns von Twitter, wo wir zu jenen zählen, die nicht nur informieren oder hyperventilieren, sondern auch ernsthaft mit Anderen diskutieren. Zu den Themen, die die Netzöffentlichkeit und das Feuilleton umtreiben wie wenige andere, zählt das Verhältnis von Gender und Sprache. Der vorliegende Text ist ein Destillat unserer mehrjährigen Diskussionen über dieses Thema. Im Folgenden geht es nicht ums entrückte „Prinzip“ oder um Kulturkampf, sondern um kritisch-pragmatische Anregungen für die Kommunikationspraxis – darum, was in konkreten Situationen sinnvoll ist und was nicht. Obwohl wir in manchen Punkten auseinanderliegen – Katapher gendert, Scheller nur punktuell – sind wir uns einig, dass Sprachwandel kein Top-Down-Prozess sein darf. Substanzielle Veränderung findet durch substanzielle Einsichten, nicht durch Dekrete von oben oder Nudging statt. Vor allem aber setzt er Willen zu Pluralität und freiem Austausch trotz Differenzen voraus. Menschen tauschen sich nicht in einer gemeinsamen Welt aus. Die gemeinsame Welt entsteht im Austausch.
Katapher: Unser Beitrag erscheint zugegebenermaßen etwas zur Unzeit, da der Wiederholungszwang bei Twitterdebatten bei diesem Thema einen gewissen Ad-Nauseam-Punkt erreicht hat. Vielleicht gelingt es uns beiden dennoch, mit diesem Text etwas zur Auflockerung der verhärteten Fronten beizutragen. Ich möchte zunächst kurz die verschiedenen Arten des Genderns erläutern, damit wir einen guten Ausgangspunkt für das Gespräch haben. Manche Optionen zum Gendern sind seit geraumer Zeit in unserer Sprache vorhanden, z.B. die Movierung, also die Ableitung der weiblichen Formen, andere sind relativ neu, wie das Gendern mit Sonderzeichen, zu denen die sogenannten Gapzeichen gehören (Sternchen, Doppelpunkt, Unterstrich etc.), die mit einem Glottisschlag versprachlicht werden können. Des Weiteren müssen zwei Richtungen beim Gendern unterschieden werden: Man kann entweder die Sexuszugehörigkeit anzeigen oder sexusneutral formulieren. Wenn ich Personenbezeichnungen moviere, hänge ich dort eine feminine Endung an, z.B. Lehrer – Lehrerin. Wenn ich zusätzlich zu der Movierung ein Gapzeichen verwende, verweise ich damit auf die Existenz weiterer möglicher Geschlechter, z.B. Lehrer*in. Die Gapzeichen werden dabei als Platzhalter verstanden. Weibliche Ableitungen dienen dazu, die Sexuszugehörigkeit anzuzeigen. Man kann aber auch sexusneutral formulieren. Dafür können bestimmte Suffixe (Endungen) verwendet werden, z.B. Lehrkräfte, oder auch nominalisierte Partizipien, z.B. Lehrende.
Nun kommen wir zum Knackpunkt, um den sich alle Genderdebatten drehen: Ist das generische Maskulinum sexusneutral oder nicht? Einige halten es für gänzlich sexusneutral, andere bestreiten, dass es überhaupt generisch sei, und halten es für ein sexusbezogenes Maskulinum. Der Rest verteilt sich irgendwo zwischen diesen beiden Polen. Selbst wenn man dem Maskulinum generisches Potenzial zuspricht, gibt es immer noch das Problem, dass es homonym (gleichlautend) mit dem sexusbezogenen Maskulinum ist. Generizität ist eine Abstraktionsleistung und prinzipiell eine gute Möglichkeit, allgemeine Aussagen über Mitglieder einer Gruppe zu treffen, ohne auf ihr Geschlecht zu verweisen. Es ist ebenjene Homonymität, die die Probleme verursacht, nicht die Generizität. Einer der heftigsten Streitpunkte dabei ist die Frage, ob es eine semantische Verbindung zwischen Genus und Sexus gibt und – wenn ja – wie eng diese ist. Eine grundsätzliche Frage, die sich daran anschließt, ist folgende: Was ist besser in puncto Förderung der Gleichberechtigung – alle Geschlechter in der Sprache anzeigen oder die Verwendung sexusneutraler Formulierungen (außer in Kontexten, in denen das Geschlecht tatsächlich relevant ist)? Alle diese Punkte werden in den aktuellen Debatten unter dem Schlagwort Gendern verhandelt. Ich beobachte schon seit längerer Zeit, dass die Diskussionen um das Thema Gendern häufig auf die Verwendung von Gapzeichen und Glottisschlag verengt werden. Allerdings wird das oft nicht klar kommuniziert und es kommt zu vermeidbaren Missverständnissen.
Scheller: Ich nehme das Thema „Gender und Sprache“ ernst, da es keine menschliche Welt ohne Kommunikation gibt – wobei die verbale nur eine Form derselben ist! Und über Sprache nachzudenken, mit ihr zu experimentieren, ist in jedem Fall spannend. Aber ich bin überzeugt, dass nicht nur die Sprache die Welt, sondern auch die Welt die Sprache verändert. Mein Hauptaugenmerk gilt letzterem, gerade mit Blick auf das grundsatzdiskussionsverliebte und regelungsfixierte Deutschland. Nele Pollatschek hat es einmal auf den Punkt gebracht: „Deutschland ist europäischer Über-geschlechtergerechte-Sprache-reden-Meister, niemand redet so viel über geschlechtergerechte Sprache wie wir, und gleichzeitig haben wir die zweithöchste Gender Pay Gap in Europa.“ Erschwerend kommt hinzu, dass kaum jemand so viel über Gendern redet wie die Gegner der neuen Formen des Genderns! Grund für meinen Schwerpunkt ist aber auch die Skepsis mir selbst gegenüber. Wir akademischen Wortschmiede neigen zur Selbstüberschätzung. Uneingestanden wandeln wir in den Fußstapfen Gottes, wenn wir durch Sprache Wirklichkeit zu schaffen versuchen. Im besten Fall geben wir lebendige, originelle Vorbilder, keine elternhaften Vorgaben. In der Popkultur funktioniert das sehr gut. Wenn beispielsweise Rapper wie Ice-T oder Nicki Minaj neue Wortschöpfungen lancieren, dann greifen Fans diese auf, weil es sie überzeugt, weil sie Spass daran haben, weil es neu und sexy ist – so verbreiten sich neue Sprechweisen. Wenn das Vor-Bild aber zur Vor-Schrift durch Behörden, Lehrstühle, Firmenzentralen & Co. wird, hat die Sache eine andere Dimension. Zudem erachte ich das Verhältnis Sprache-Welt als zutiefst ambivalent, ja als ironisch. Im Türkischen etwa gibt es kein Genus, aber in der Türkei ein Patriarchat. Im Polnischen werden gar Verben bei der Vergangenheitsbildung gegendert, aber sind Frauen dort bessergestellt als etwa in Deutschland? Nicht, dass ich wüsste. Vor dem Hintergrund mangelhafter wissenschaftlicher Evidenz, was die Prägekraft des Symbolischen auf das Reale betrifft, plädiere ich für einen gelassenen, spielerischen und vor allem freiheitlichen Umgang mit Sprache. Leitfäden, Sprachreglemente, das ist so höfisch – eine massendemokratische Form der Panegyrik.
Katapher: Ich habe ein zwiespältiges Verhältnis zu konstruktivistischen Ansätzen, die von einer sprachlichen Konstruktion der Wirklichkeit ausgehen. Es gibt zum Beispiel Strömungen in der feministischen Sprachwissenschaft, die der linguistischen Relativitätstheorie folgen, welche besagt, dass die Sprache das Denken determiniert und – in ihrer starken Variante – sogar Denken und Erkenntnis außerhalb der Sprache negiert. Die modernen Varianten dieser These sind jedoch gemäßigter. Bei denjenigen, die das Gendern ablehnen, finden sich ebenfalls einige, die deterministischen Vorstellungen folgen, was sie durch häufige Verweise auf George Orwells Roman 1984 und die fiktionale Sprache Newspeak kundtun, die eine nicht realistische Verarbeitung der linguistischen Relativitätstheorie in ihrer starken Variante darstellt. Die Diskussionen um das Thema Gendern zeigen, dass sich Vertreterinnen und Vertreter dieser Theorie trotz der vermeintlichen Macht der Sprache über das Denken jeweils selbst ein höheres Maß an außersprachlicher Erkenntnisfähigkeit und somit größeres Wissen zuschreiben, was Ulrike Winkelmann in ihrem Artikel Sprache als Experiment zu Recht als „grundlegenden Widerspruch der Sprachkritik“ bezeichnet. Dies ist einer der Gründe, warum die Diskussionen um das Thema Gendern so oft eskalieren. Ein anderer ist, dass sie eng an identitätspolitische Debatten gekoppelt sind, was ihnen zusätzliche Sprengkraft verleiht.
Scheller: Tendenziell versuche ich, Identitätsmarker zu reduzieren, statt zu pluralisieren, da wir in einer Zeit leben, die sehr gut ist im Identifizieren, aber nicht im Imaginieren. Je stärker Identitäten kodifiziert werden, desto skeptischer werde ich. Konkret bedeutet das zum Beispiel: Juristische Personen zu gendern ist unnötig. „Der Vorstand“ ist ein Organ, kein Mensch. In Gesetzestexten wiederum genügt der Verweis, dass alle Geschlechter gemeint sind. So erspart man sich Aufwand, aber auch rechtliche Grauzonen. Immerhin urteilte das Bundesgericht 1887, in der Bundesverfassung seien Frauen bei „Schweizern“ nicht mitgemeint, was das Aktivbürgerrecht betrifft. Pech für die Juristin Emilie Kempin-Spyri, die deshalb kein Anwaltspatent erhielt.
Katapher: Dieses Beispiel zeigt das Missbrauchspotential der Homonymität von generischem und sexusbezogenem Maskulinum. Sie wurde ausgenutzt, um Frauen den Zugang zu bestimmten Bereichen zu verwehren, wie man an der Episode um Emilie Kempin-Spyri sieht. An dieser Stelle stellt sich allerdings auch die Frage, ob das in dieser Form heute noch möglich wäre. Die Rückwärtsrolle bei Frauenrechten überall auf der Welt hat mich allerdings inzwischen vorsichtig werden lassen bei solchen Prognosen und ich kann gut verstehen, dass man diesem Missbrauchspotential ein für alle Mal den Riegel vorschieben möchte.
Scheller: In der Alltagskommunikation oder in der Berichterstattung ist Abwägung geboten. Sage ich etwa: „In der Schweiz zahlen Studenten geringe Studiengebühren“, so ist durch den Kontext klar, dass dies für alle Geschlechter gilt. Zu behaupten, „Studenten“ schlösse aus, erzeugt ein Scheinproblem. In bestimmten Situationen aber kann es sinnvoll sein, „Studentinnen und Studenten“ zu sagen. Berichten etwa Journalisten über eine Abstimmung, so ist es von Interesse zu wissen, ob Männer wie auch Frauen oder Non-Binäre teilnahmen. Das nominalisierte Partizip „Studierende“ wäre dann nicht zielführend, da explizit Männer und Frauen betont werden sollen. Aber grundsätzlich ist „Studierende“ eher unproblematisch und im Deutschen übrigens seit langem bekannt.
Katapher: Nominalisierte Partizipien, wie Studierende, können neben simultanen auch habituelle Tätigkeiten ausdrücken. Es wird zwar immer wieder behauptet, sie würden ausschließlich das semantische Merkmal der Gleichzeitigkeit besitzen, aber das kann anhand lexikalisierter Formen mit habitueller Lesart wie Alleinerziehende, Abgeordnete, Vorsitzende etc. widerlegt werden.
Scheller: Während das Partizip neutralisiert, hat der Genderstern eine andere Wirkung. Als Nicht-Buchstabe wirkt er auf mich im Schriftbild wie ein unfreiwillig exotisierender Fremdkörper und verwischt zudem die Grenze zwischen Buchstaben und Satzzeichen, stellt externe politische Logik über interne Logik der Sprache. In der gesprochenen Sprache wiederum ist er eine bloße Leerstelle, nicht kongruent mit den anderen Zeichen. Beides missfällt mir – die Gemeinten sind doch keine Leerstellen! Mitunter entstehen auch neue Missverständnisse. Neulich las ich: „deutsche Ministerpräsident*innen“. Meines Wissens bekleiden in Deutschland keine Non-Binären das fragliche Amt. Hier ist der Gebrauch des Inklusionsmarkers übereifrig, wenn nicht irreführend. Kürzlich schrieb ich in einem Text: „Die Kuratoren Frauenname und Männername haben …“. Die Lektorin formulierte um: „Die Kurator*innen Frauenname und Männername …“ Ich lehnte die Änderung ab, denn hier wird ein Scheinproblem konstruiert. Solange die Ablehnung akzeptiert wird – meinetwegen. Aber man merkt: Bei den gerade genannten Fällen ist die Nicht-Verwendung des Gendersterns mittlerweile begründungspflichtig und erfordert teils intensive Diskussionen, bis hin zu Disclaimern, dass und warum der Autor den Genderstern nicht verwendet (auch das war in einem Text von mir schon der Fall). Es ist durchaus denkbar, dass künftig Autoren bevorzugt werden, die die neuen Normen erfüllen – nicht durch direkte Verbote und Gebote, sondern durch das, was Gilles Deleuze „Kontrollgesellschaft“ nannte, also durch Zugang zu bestimmten Ressourcen und Möglichkeiten. Genauso illiberal wäre es aber, Autoren die Verwendung des Gendersterns zu untersagen oder sie unausgesprochen auszugrenzen, indem man einfach keine Aufträge an sie vergibt.
Unabhängig davon lässt sich sagen: Eine Qualität von Sprache besteht auch darin, unpräzise zu sein. Versucht man, die Wirklichkeit eins zu eins in Sprache abzubilden, verwechselt man Karte mit Gebiet. Pragmatismus ist angebracht. Das generische Maskulinum ist historisch gewachsen, nicht mit dem biologischen oder sozialen Geschlecht identisch, in vielen patriarchalen Gesellschaften nicht gebräuchlich und verursacht im Deutschen oft keine Probleme – sicherlich nicht mehr als das generische Femininum, welches teils sogar in der SRF-Tagesschau verwendet wird (bspw. „Bäuerinnen“, wenn der Berufsstand „Bauer“ gemeint ist). Offenbar soll durch das generische Femininum der männlich dominierte Beruf für Frauen attraktiver werden. In der Tat mag es Kontexte geben, in denen es angebracht ist, Frauen explizit anzusprechen, etwa in Stellenausschreibungen. So ist es möglich, dass sich durch Formulierungen wie „wir suchen eine Manager*in“ Frauen und Drittgeschlechtliche eher angesprochen fühlen. Aber die zugrunde liegende Logik lässt sich schwerlich generalisieren. Sagt man nur „Verbrecher“, um Männer zu Verbrechen zu motivieren? Eher nicht. Wenn es heißt: Wir sollten stets „Chef*innen“ schreiben und sagen, damit sich alle angesprochen fühlen und mehr Frauen oder nicht-binäre Menschen Chef werden, gilt dasselbe auch für „Verbrecher*innen“? Soll mit ein und derselben sprachpolitischen Intervention einmal Wirklichkeit erzeugt, einmal ‚nur‘ beschrieben werden? Diese Art der Sprachpolitik ist inkohärent; sie neigt dazu, performative Sprechakte zu verabsolutieren und sie zugleich nicht zu Ende zu denken. In denjenigen Fällen, wo das generische Maskulinum eindeutig irreführend oder missverständlich ist, sollten aber tatsächlich Alternativen genutzt werden. Oder man setzt einfach auf heiter-absurdistisches Anarcho-Gendern nach Hermes Phettberg, der „y“ oder „ys“ an Substantive pappt: Studentys, Arbeitys, Journalistys …
Katapher: Das sehe ich in einem Punkt anders. Die Movierung (weibliche Ableitung) ist ebenfalls historisch gewachsen und obwohl das biologische Geschlecht nicht mit dem grammatischen identisch ist, scheint bei Personenbezeichnungen zwischen ihnen eine semantische Verbindung zu bestehen, sonst wäre es schwer erklärbar, warum die Sexusspezifizierung bei nominalisierten Adjektiven über den definiten Artikel erfolgt (der Reiche/die Reiche, der Alte/die Alte etc.). Über die Enge und Weite dieser Verbindung kann man allerdings diskutieren und wenn Genus und Sexus in eins gesetzt werden, dann wird damit auch die Möglichkeit der Geschlechtsabstraktion negiert, die aber durchaus gegeben ist. Beide Seiten neigen dazu, Forschungsergebnisse zu verabsolutieren und sich nicht allzu genau mit der Sprachgeschichte zu beschäftigen – sowohl bei der Movierung als auch bei dem generischen Maskulinum. Beide wurden nicht am grünen Tisch beschlossen oder per Dekret verordnet, sondern sind das Ergebnis von Sprachwandelprozessen und existieren schon seit geraumer Zeit. Beim Agenssuffix -er lässt sich beobachten, wie ihm im Laufe der Zeit abwechselnd das Potenzial zur Bildung generischer oder männlicher Personenbezeichnungen zugesprochen wurde. Aus der Distanz betrachtet relativiert sich hier einiges. Aktuell schlägt das Pendel wieder Richtung Sexusbezug aus und damit ins 18. Jahrhundert zurück. Genau deswegen halte ich nichts von sprachpolitischen Eingriffen – sowohl in die eine Richtung (Gendern vorschreiben) als auch in die andere Richtung (Gendern verbieten). Dafür sind zu viele Fragen offen. Das betrifft unter anderem die psycholinguistischen Experimente und Studien zur Verarbeitung des generischen Maskulinums. Dazu wurde angemerkt, dass bei ihnen oft nicht der generische Gebrauch untersucht wurde, sondern der spezifische, bei dem eine Anzeige der Sexuszugehörigkeit üblich sei. Zudem seien sprachliche Kontexte und außersprachliche Faktoren zu wenig berücksichtigt worden. Weitere Kritikpunkte betreffen z.B. die Interpretation der Ergebnisse. Deshalb sollten die kommunizierten Ergebnisse dieser Experimente nicht verabsolutiert werden. Auch bei der Frage nach der Verträglichkeit von Sonderzeichen mit barrierefreier Kommunikation gibt es ungelöste Probleme (nicht nur bei den Screenreadern), die jedoch weitgehend ignoriert werden, weil behinderte Menschen keine große Lobby besitzen und Themen wie geringe Lesekompetenzen sowie Leserechtschreibschwäche zu wenig Beachtung finden. Neben der sprachlichen Repräsentation ist eben auch der grundsätzliche Zugang zu Texten von Bedeutung.
Scheller: Vielleicht nähern wir uns in Fragen der Sprachpolitik einem ähnlichen Spannungsverhältnis wie dem im 19. Jahrhundert zwischen antiautoritärem Anarchismus oder libertärem Sozialismus einerseits, staatssozialistischem Marxismus und konstituierter Macht andererseits. Begleitet, wie üblich, von Gegenreaktionen aus dem Spektrum vom skeptisch-liberalen Konservatismus bis hin zum aggressiven, ressentimentbeladenen Regressismus – die Vertreter des letzteren sind diejenigen, die heute „Genderwahn!“ rufen, noch bevor sie wissen, was „Gender“ überhaupt bedeutet. Es wäre in jedem Fall interessant zu sehen, welche Varianten sich durchsetzen, wenn keine sprachpolitische Beeinflussung in Form von Leitfäden oder Richtlinien an Arbeitsplätzen, Universitäten etc. existiert. Wenn sich Sprache also durch zivilgesellschaftliche Energien weiterentwickelte, durch überzeugende Vorbilder und kontinuierliche Alltagspraxis, nicht zuletzt auch durch spielerische Offenheit bei gleichzeitiger dialogischer Suche nach Klarheit. Wir sollten den Versuch wagen.