Kurz vor dem 100. Jahrestag brechen die Debatten um die Bedeutung des Schweizer Landesstreiks wieder auf – nicht zum ersten und wahrscheinlich auch nicht zum letzten Mal. Die Ereignisse im November 1918 sind bis heute ein Gefechtsfeld helvetischer Geschichtspolitik.

  • Christian Koller

    Christian Koller ist Direktor des Schweizerischen Sozialarchivs und Titularprofessor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich. Er lehrt und forscht zur Geschichte von Rassismus und Nationalismus, sozialen Bewegungen, Gewaltgeschichte, Erinnerungskulturen, Historischer Semantik und Sportgeschichte.

Am Ende des Jahres 1918 konsta­tierte eine sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Broschüre: „Der Landes­streik liegt nur ein paar Tage hinter uns. Wir alle haben ihn miter­lebt, mit eigenen Augen gesehen, und dennoch begegnen wir heute den wider­spre­chendsten Darstel­lungen und Meinungen.“ Diese Deutungs­kon­flikte sind bis heute nicht beigelegt. Die Memo­ri­a­li­sie­rung der Ereig­nisse war häufig kontro­vers und geleitet von poli­ti­schen Fragen der sich erin­nernden Gegen­wart. Dies wurde beson­ders bei den Landes­streik­ju­bi­läen deut­lich. Anläss­lich des 90-Jahre-Jubiläums bezeich­nete Paul Rech­steiner – der höchste Schweizer Gewerk­schafter – 2008 den Lande­streik als lang­fristig „ausser­or­dent­lich erfolg­reich“. Im Rück­blick habe der Forde­rungs­ka­talog von 1918 „nicht weniger als das Programm für den sozialen und poli­ti­schen Fort­schritt in der Schweiz im 20. Jahr­hun­dert“ formuliert.

Ganz anders sah dies Pierre Bessard, Direktor des „Libe­ralen Insti­tuts“. Im Artikel Der lange Irrweg zum Schweizer Sozi­al­staat (2011) stellte er den Landes­streik als Resultat der „demago­gisch geprägten Instru­men­ta­li­sie­rung“ einer Wirt­schafts­krise dar. Als „willige Helfer der sowje­ti­schen Agita­toren“ habe die Sozi­al­de­mo­kratie die Krisen­si­tua­tion auszu­nutzen versucht, jedoch hätten ihre Forde­rungen – wie jene nach einer AHV – „unter den Bürgern keine nennens­werte Unter­stüt­zung genossen“. Kurz vor seinem 100. Jahrestag droht die Erin­ne­rung an den Landes­streik zur Arena für Argu­mente pro oder contra Sozi­al­staat erneut zu versim­peln. Es wäre nicht das erste Mal, dass er zum Kris­tal­li­sa­ti­ons­punkt von Geschichts­po­li­tiken würde, die bewusst auf die Gestal­tung der Gegen­wart hinwirken.

1918/19: Zukünf­tige Vergangenheit

Nach­wehen des Landes­streiks: Wahl­plakat der FDP von 1919; Quelle: Sozialarchiv

Kontro­verse Deutungen des Landes­streiks traten nicht erst nach dem Ereignis zu Tage – sie hatten sich schon Monate zuvor aufge­baut. Im linken Lager war man sich uneinig: Hier gab es nicht nur Anhänger der offi­zi­ellen Beschluss­lage von Partei und Gewerk­schaften, die im Gene­ral­streik ein Notwehr- und Protest­mittel sahen, sondern auch grund­sätz­liche Skep­tiker der Gene­ral­strei­kidee, revo­lu­tio­näre Heiss­sporne und Schwan­kende. Dass die Rechte den Streik anders deutete, lag auf der Hand. Seit Jahr­zehnten waren Verschwö­rungs­theo­rien über die Arbei­ter­be­we­gung zirku­liert, die nach der Okto­ber­re­vo­lu­tion in die Furcht mündeten, dass nun auch in der Schweiz ein Umsturz drohe. Bereits ab April 1918 titu­lierte die Presse der Romandie das Oltener Akti­ons­ko­mitee als „Soviet d’Olten“ und General Wille verbrei­tete die Behaup­tung, die Konfe­renzen von Zimmer­wald und Kiental hätten die Schweizer Revo­lu­tion beschlossen.

Zwar förderte eine gross­an­ge­legte Unter­su­chung der Bundes­an­walt­schaft ab November 1918 keine Belege für einen orga­ni­sa­to­ri­schen Zusam­men­hang zwischen Streik­lei­tung und der ausge­wie­senen Sowjet­mis­sion zu Tage. Während des Landes­streik­pro­zesses 1919 bezeich­nete der Auditor die Vorstel­lung, beim Streik habe „fremdes Geld“ eine Rolle gespielt, gar als „Legende“. Dennoch war der Nega­tiv­my­thos vom Umsturz­ver­such in der bürger­li­chen Histo­rio­gra­phie und Publi­zistik bis in die 1960er Jahre prägend. Immer wieder ausge­schmückt wurde dabei das angeb­lich zwei Wochen vor dem Streik produ­zierte Doku­ment Projet d’instructions générales après la révolution en Suisse, das der russi­sche Schrift­steller Serge Persky am 23. April 1919 in der Gazette de Lausanne publi­zierte. Demge­mäss sei geplant gewesen, eine Sowjet­schweiz unter Lenins Vertrau­ens­mann Karl Radek zu errichten.

Dämo­ni­sieren und Verschweigen im Zeichen der Geis­tigen Landesverteidigung

Der Mili­tär­pu­bli­zist Paul de Vallière trug bedeu­tend zur Tradie­rung des Umsturz­nar­ra­tivs bei; Quelle: Sozialarchiv

Schon 1917/18 hatte sich auch in der Schweiz das Phan­tasma des „Judeo-Bolschewismus“ ausge­breitet, das im diplo­ma­ti­schen und frem­den­po­li­zei­li­chen Apparat sowie einem Teil der bürger­li­chen Presse rasch omni­prä­sent wurde. In diese Vorstel­lung vom Bolsche­wismus als Instru­ment einer jüdi­schen Welt­ver­schwö­rung wurde die Erin­ne­rung an den Landes­streik einge­passt und als Waffe gegen links verwendet. Von grossem Einfluss war die Broschüre Les trou­bles révo­lu­ti­on­n­aires en Suisse de 1916 à 1919, die der Mili­tär­pu­bli­zist Paul de Vallière 1926 veröf­fent­licht hatte. Darin behaup­tete er, der „revo­lu­tio­näre Streik“ im September 1918 sei von zumeist jüdi­schen Bolsche­wisten „im Prinzip in Moskau beschlossen“ worden.

Davon wich die Memo­ri­al­kultur der Arbei­ter­be­we­gung natür­lich markant ab. Die Ursache für den Landes­streik sah man hier in der wirt­schaft­li­chen Notlage und einem Klas­sen­staat, welcher die Inter­essen der Arbei­ter­schaft krass vernach­läs­sigt und deren Protest mit Mili­tär­ge­walt unter­drückt habe. Diese Sicht konnte sich jenseits der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Publi­zistik kaum je Gehör – geschweige denn Akzep­tanz – verschaffen. Das zeigte sich 1928, als ehema­lige Streik­führer das zehn­jäh­rige Jubi­läum begingen. Auf bürger­li­cher Seite löste dies sogleich einen Empö­rungs­sturm aus. Ausser­halb des sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Milieus war es prak­tisch unmög­lich, dem Landes­streik jenseits des Umsturz-Narrativs zu gedenken. Eine Ausnahme stellte der Landesstreik-Artikel im Historisch-Biographischen Lexikon der Schweiz von 1934 dar. Verfasst vom Zürcher Stadt­ar­chivar Eugen Hermann, der selber am Landes­streik teil­ge­nommen hatte, präsen­tierte er eine bemer­kens­wert multik­au­sale Inter­pre­ta­tion des Ereignisses.

Im Kontext der Geis­tigen Landes­ver­tei­di­gung in ihrer „geschlos­senen“ Spielart, die auf Ausgren­zung der gesamten Linken abzielte und mit rechts­au­tori­tären Staats­mo­dellen lieb­äu­gelte, wurde der Landes­streik dann zur nega­tiven Peri­petie schlechthin – so im Buch­pro­jekt Der rote Welt­s­turm und die Eidge­nossen, welches ein „Komitee für die Heraus­gabe vater­län­di­scher Lite­ratur“ Mitte der 30er Jahre voran­trieb. In die gleiche Rich­tung ging der mit deut­scher Hilfe gedrehte Film Die Rote Pest (1938). Initi­iert von rechten Kreisen um Altbun­desrat Jean-Marie Musy und den nach­ma­ligen SS-Obersturmbannführer Franz Riedweg stellte er den Landes­streik zusammen mit Unruhen und Konflikten in aller Welt als Teil einer jüdisch-bolschewistisch-intellektualistischen Verschwö­rung dar. Von solchen Verteu­fe­lungen sah die „offene“ Spielart der Geis­tigen Landes­ver­tei­di­gung, die auf den natio­nalen Schul­ter­schluss unter Einbezug der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Arbei­ter­be­we­gung zielte, weit­ge­hend ab. Hier schien es einfa­cher, das Thema zu über­gehen und zu verschweigen. Promi­nente Beispiele sind die Kino­pro­duk­tionen Füsi­lier Wipf (1938) und Gilberte de Cour­genay (1941), in denen der November 1918 schlicht nicht vorkam. In Schul­bü­chern blieben diese zwei Stra­te­gien der Dämo­ni­sie­rung des Landes­streiks als Revo­lu­ti­ons­ver­such einer­seits und des Totschwei­gens ande­rer­seits sogar bis etwa 1970 vorherrschend.

Der Landes­streik war während des Zweiten Welt­kriegs aber keines­wegs vergessen. Ende 1943 warf die SP-Zeitschrift Rote Revue die Frage nach einem „zweiten 1918“ auf. Lage­be­richte des Aufklä­rungs­dienstes von „Heer & Haus“, die zur glei­chen Zeit die Stim­mung in der Bevöl­ke­rung evalu­ierten, kamen zum Schluss, dass die massiven Real­lohn­ver­luste bei vielen die Furcht vor einem neuen „1918“ – oder auch Hoff­nungen auf ein solches – hervor­riefen. In diesem Kontext versprach Bundes­prä­si­dent Walther Stampfli in seiner Neujahrs­an­sprache 1944, dass man bis 1948 eine AHV einführen werde. Damit griff er einen zentralen Punkt der Landes­streik­for­de­rungen und Verfas­sungs­auf­trag von 1925 auf.

Deutungs­streit und Neuin­ter­pre­ta­tion im Kalten Krieg

Der 30. Jahrestag des Landes­streiks fiel also just mit der von 80% der Stim­menden gutge­heis­senen Einfüh­rung der AHV zusammen. Während sich die bürger­liche Presse dezi­diert dagegen verwahrte, irgend­welche Bezüge zwischen „1918“ und dem grossen sozi­al­po­li­ti­schen Wurf von 1947/48 zu sehen, nahm in der Arbei­ter­be­we­gung eine andere Deutung Form an. Hier wurden nun zuneh­mend sozi­al­po­li­ti­sche Errun­gen­schaften, die bereits im Forde­rungs­ka­talog des Landes­streiks figu­riert hatten, ursäch­lich auf diesen zurück­ge­führt – etwa mit Hinweis darauf, dass der Bundesrat selber in der Landes­streik­ses­sion von 1918 die Einfüh­rung der AHV „lebhaft befür­wortet“ hatte und die 48-Stunden-Woche bereits kurz darauf Realität geworden war.

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Mit der Inte­gra­tion der Arbei­ter­be­we­gung in den anti­kom­mu­nis­ti­schen Nach­kriegs­kon­sens und ab 1959 lang­fristig in die Regie­rung wurde das Umsturz­nar­rativ an sich dysfunk­tional. Es verschwand aber keines­wegs sofort. Während die Allge­meine Schwei­ze­ri­sche Mili­tär­zeit­schrift 1964 den Landes­streik als „eine Explo­sion infolge aufge­stauten sozialen Druckes“ inter­pre­tierte, hatte Roger Masson, Ex-Chef des Nach­rich­ten­dienstes und ETH-Militärwissenschaftler, noch vier Jahre zuvor in der Revue Mili­taire Suisse die klas­si­sche Umsturz­le­gende repe­tiert – mitsamt ihren anti­se­mi­ti­schen Zutaten. In Vertei­di­gung des Umsturz­nar­ra­tivs trotz fehlender Quel­len­grund­lage insis­tierte Edgar Bonjour 1965 in seiner Geschichte der schwei­ze­ri­schen Neutra­lität, das juris­ti­sche Prinzip „quod non est in actis non est in mundo“ gelte für Histo­riker nicht.

Willi Gaut­schis Stan­dard­werk von 1968 etablierte eine neue Sicht­weise auf den Landes­streik; Quelle: Sozialarchiv

Quel­len­ba­sierte Forschung wies inzwi­schen aber in eine andere Rich­tung. Bereits 1955 hatte Willi Gaut­schi seine Disser­ta­tion zum Oltener Akti­ons­ko­mitee vorge­legt. Um das 50jährige Jubi­läum herum folgten dann verschie­dene weitere Bücher, unter anderem eine Gesamt­dar­stel­lung von Gaut­schi, die bis heute als Stan­dard­werk gilt. Darin wies er die „Konspirations-These“ zurück und betonte statt­dessen struk­tu­relle Probleme der Schweizer Gesell­schaft und Politik der „Belle Epoque“, insbe­son­dere die mangel­hafte Inte­gra­tion der Arbei­ter­be­we­gung, und deren Verschär­fung infolge der sozio­öko­no­mi­schen Entwick­lung ab 1914. Diese Sicht­weise etablierte sich in der Folge unter Historiker_innen unter­schied­li­cher poli­ti­scher Couleur als Konsens und wurde durch mehrere Regio­nal­stu­dien bestä­tigt. Bezeich­nen­der­weise warf der nach der Öffnung russi­scher Archive in den 90er Jahren von Peter Collmer erbrachte Nach­weis, dass sich auch dort keine Belege für eine orga­ni­sa­to­ri­sche Zusam­men­ar­beit von Streik­füh­rung und Sowjet­mis­sion finden, keine hohen Wellen mehr.

Das Zenten­arium: Geschichts­po­litik und Anschluss an die inter­na­tio­nale Forschung

Im Vorfeld des Zenten­ariums ist das Inter­esse am Landes­streik neu erwacht. Der Schwei­ze­ri­sche Gewerk­schafts­bund hat bereits für November 2017 eine Tagung orga­ni­siert. Im Sommer 2018 wird Olten Schau­platz eines Frei­licht­thea­ters und im November öffnet eine Ausstel­lung des Landes­mu­seums und des Sozi­al­ar­chivs. Im Weiteren sind zwei Fern­seh­filme, mehrere regio­nale Ausstel­lungen sowie eine Reihe von Publi­ka­tionen in der Pipe­line. Dieser Hype behagt nicht allen. So hat die Neue Zürcher Zeitung wieder­holt vor einer geschichts­po­li­ti­schen „Usur­pa­tion“ des „Erfolgs­mo­dells Schweiz“ durch die Linke im Zuge des Zenten­ariums gewarnt und dabei schon mal präventiv den Vorwurf der „Geschichts­klit­te­rung“ in den Raum gestellt. Histo­rio­gra­phisch sekun­diert wurde sie durch Rudolf Jaun und Tobias Strau­mann. Aufgrund einer recht limi­tierten Quel­len­basis, unter sehr selek­tiver Berück­sich­ti­gung des Forschungs­stands und nicht ohne fakti­sche Irrtümer stellten sie den Landes­streik jüngst als simplen Show­down zwischen Armee­lei­tung und linken Arbei­ter­füh­rern dar. Die Essenz des Fach­ar­ti­kels besteht in der vermeint­li­chen Wider­le­gung eines kari­ka­tur­artig wieder­ge­ge­benen „Verelen­dungs­nar­ra­tivs“, das angeb­lich die „post-68er“-Historiographie domi­niert habe. Der Fokus der geschichts­po­li­ti­schen Kontro­versen um den Landes­streik hat sich in den letzten 99 Jahren also von dessen Charakter und dem Platz der Arbei­ter­be­we­gung in Staat und Gesell­schaft zuneh­mend auf das Feld der (De-)Legitimation des Sozi­al­staates verschoben. Entspre­chende Posi­tionen für das Zenten­arium sind bereits bezogen.

Die aktu­elle Forschung – etwa ein laufendes SNF-Projekt an der Uni Bern –  befasst sich dagegen mit anderen Aspekten, etwa der (auch mikro­his­to­ri­schen) Einbet­tung des Landes­streiks in die allge­meine Protest­welle von 1917 bis 1919, der Bedeu­tung von Emotionen bei den Akteur_innen vor, während und nach dem November 1918, den Geschlech­ter­rollen und ihren Durch­bre­chungen in dieser Krisen­zeit oder der trans­na­tio­nalen Kontex­tua­li­sie­rung des Ereig­nisses jenseits der alten Verschwö­rungs­theo­rien als Teil einer „Global Revo­lu­tion of Rising Expec­ta­tions“ (Jörn Leon­hard) ab 1917. Die Thema­ti­sie­rung solcher Gesichts­punkte, die den natio­nal­his­to­ri­schen Röhren­blick aufbre­chen und den Fokus auf bisher wenig beach­tete Akteur_innen und Zusam­men­hänge richten, würde auch der Erin­ne­rungs­kultur im Zeichen des Zenten­ariums gut tun. Nichts­des­to­trotz: Vom kommenden Jubi­lä­ums­jahr sind nicht nur neue Einsichten in den Landes­streik zu erwarten. Mindes­tens ebenso so viel werden wir über die (erinnerungs-)politische Kultur der Gegen­wart erfahren.