Am Ende des Jahres 1918 konstatierte eine sozialdemokratische Broschüre: „Der Landesstreik liegt nur ein paar Tage hinter uns. Wir alle haben ihn miterlebt, mit eigenen Augen gesehen, und dennoch begegnen wir heute den widersprechendsten Darstellungen und Meinungen.“ Diese Deutungskonflikte sind bis heute nicht beigelegt. Die Memorialisierung der Ereignisse war häufig kontrovers und geleitet von politischen Fragen der sich erinnernden Gegenwart. Dies wurde besonders bei den Landesstreikjubiläen deutlich. Anlässlich des 90-Jahre-Jubiläums bezeichnete Paul Rechsteiner – der höchste Schweizer Gewerkschafter – 2008 den Landestreik als langfristig „ausserordentlich erfolgreich“. Im Rückblick habe der Forderungskatalog von 1918 „nicht weniger als das Programm für den sozialen und politischen Fortschritt in der Schweiz im 20. Jahrhundert“ formuliert.
Ganz anders sah dies Pierre Bessard, Direktor des „Liberalen Instituts“. Im Artikel Der lange Irrweg zum Schweizer Sozialstaat (2011) stellte er den Landesstreik als Resultat der „demagogisch geprägten Instrumentalisierung“ einer Wirtschaftskrise dar. Als „willige Helfer der sowjetischen Agitatoren“ habe die Sozialdemokratie die Krisensituation auszunutzen versucht, jedoch hätten ihre Forderungen – wie jene nach einer AHV – „unter den Bürgern keine nennenswerte Unterstützung genossen“. Kurz vor seinem 100. Jahrestag droht die Erinnerung an den Landesstreik zur Arena für Argumente pro oder contra Sozialstaat erneut zu versimpeln. Es wäre nicht das erste Mal, dass er zum Kristallisationspunkt von Geschichtspolitiken würde, die bewusst auf die Gestaltung der Gegenwart hinwirken.
1918/19: Zukünftige Vergangenheit

Nachwehen des Landesstreiks: Wahlplakat der FDP von 1919; Quelle: Sozialarchiv
Kontroverse Deutungen des Landesstreiks traten nicht erst nach dem Ereignis zu Tage – sie hatten sich schon Monate zuvor aufgebaut. Im linken Lager war man sich uneinig: Hier gab es nicht nur Anhänger der offiziellen Beschlusslage von Partei und Gewerkschaften, die im Generalstreik ein Notwehr- und Protestmittel sahen, sondern auch grundsätzliche Skeptiker der Generalstreikidee, revolutionäre Heisssporne und Schwankende. Dass die Rechte den Streik anders deutete, lag auf der Hand. Seit Jahrzehnten waren Verschwörungstheorien über die Arbeiterbewegung zirkuliert, die nach der Oktoberrevolution in die Furcht mündeten, dass nun auch in der Schweiz ein Umsturz drohe. Bereits ab April 1918 titulierte die Presse der Romandie das Oltener Aktionskomitee als „Soviet d’Olten“ und General Wille verbreitete die Behauptung, die Konferenzen von Zimmerwald und Kiental hätten die Schweizer Revolution beschlossen.
Zwar förderte eine grossangelegte Untersuchung der Bundesanwaltschaft ab November 1918 keine Belege für einen organisatorischen Zusammenhang zwischen Streikleitung und der ausgewiesenen Sowjetmission zu Tage. Während des Landesstreikprozesses 1919 bezeichnete der Auditor die Vorstellung, beim Streik habe „fremdes Geld“ eine Rolle gespielt, gar als „Legende“. Dennoch war der Negativmythos vom Umsturzversuch in der bürgerlichen Historiographie und Publizistik bis in die 1960er Jahre prägend. Immer wieder ausgeschmückt wurde dabei das angeblich zwei Wochen vor dem Streik produzierte Dokument Projet d’instructions générales après la révolution en Suisse, das der russische Schriftsteller Serge Persky am 23. April 1919 in der Gazette de Lausanne publizierte. Demgemäss sei geplant gewesen, eine Sowjetschweiz unter Lenins Vertrauensmann Karl Radek zu errichten.
Dämonisieren und Verschweigen im Zeichen der Geistigen Landesverteidigung

Der Militärpublizist Paul de Vallière trug bedeutend zur Tradierung des Umsturznarrativs bei; Quelle: Sozialarchiv
Schon 1917/18 hatte sich auch in der Schweiz das Phantasma des „Judeo-Bolschewismus“ ausgebreitet, das im diplomatischen und fremdenpolizeilichen Apparat sowie einem Teil der bürgerlichen Presse rasch omnipräsent wurde. In diese Vorstellung vom Bolschewismus als Instrument einer jüdischen Weltverschwörung wurde die Erinnerung an den Landesstreik eingepasst und als Waffe gegen links verwendet. Von grossem Einfluss war die Broschüre Les troubles révolutionnaires en Suisse de 1916 à 1919, die der Militärpublizist Paul de Vallière 1926 veröffentlicht hatte. Darin behauptete er, der „revolutionäre Streik“ im September 1918 sei von zumeist jüdischen Bolschewisten „im Prinzip in Moskau beschlossen“ worden.
Davon wich die Memorialkultur der Arbeiterbewegung natürlich markant ab. Die Ursache für den Landesstreik sah man hier in der wirtschaftlichen Notlage und einem Klassenstaat, welcher die Interessen der Arbeiterschaft krass vernachlässigt und deren Protest mit Militärgewalt unterdrückt habe. Diese Sicht konnte sich jenseits der sozialdemokratischen Publizistik kaum je Gehör – geschweige denn Akzeptanz – verschaffen. Das zeigte sich 1928, als ehemalige Streikführer das zehnjährige Jubiläum begingen. Auf bürgerlicher Seite löste dies sogleich einen Empörungssturm aus. Ausserhalb des sozialdemokratischen Milieus war es praktisch unmöglich, dem Landesstreik jenseits des Umsturz-Narrativs zu gedenken. Eine Ausnahme stellte der Landesstreik-Artikel im Historisch-Biographischen Lexikon der Schweiz von 1934 dar. Verfasst vom Zürcher Stadtarchivar Eugen Hermann, der selber am Landesstreik teilgenommen hatte, präsentierte er eine bemerkenswert multikausale Interpretation des Ereignisses.
Im Kontext der Geistigen Landesverteidigung in ihrer „geschlossenen“ Spielart, die auf Ausgrenzung der gesamten Linken abzielte und mit rechtsautoritären Staatsmodellen liebäugelte, wurde der Landesstreik dann zur negativen Peripetie schlechthin – so im Buchprojekt Der rote Weltsturm und die Eidgenossen, welches ein „Komitee für die Herausgabe vaterländischer Literatur“ Mitte der 30er Jahre vorantrieb. In die gleiche Richtung ging der mit deutscher Hilfe gedrehte Film Die Rote Pest (1938). Initiiert von rechten Kreisen um Altbundesrat Jean-Marie Musy und den nachmaligen SS-Obersturmbannführer Franz Riedweg stellte er den Landesstreik zusammen mit Unruhen und Konflikten in aller Welt als Teil einer jüdisch-bolschewistisch-intellektualistischen Verschwörung dar. Von solchen Verteufelungen sah die „offene“ Spielart der Geistigen Landesverteidigung, die auf den nationalen Schulterschluss unter Einbezug der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung zielte, weitgehend ab. Hier schien es einfacher, das Thema zu übergehen und zu verschweigen. Prominente Beispiele sind die Kinoproduktionen Füsilier Wipf (1938) und Gilberte de Courgenay (1941), in denen der November 1918 schlicht nicht vorkam. In Schulbüchern blieben diese zwei Strategien der Dämonisierung des Landesstreiks als Revolutionsversuch einerseits und des Totschweigens andererseits sogar bis etwa 1970 vorherrschend.
Der Landesstreik war während des Zweiten Weltkriegs aber keineswegs vergessen. Ende 1943 warf die SP-Zeitschrift Rote Revue die Frage nach einem „zweiten 1918“ auf. Lageberichte des Aufklärungsdienstes von „Heer & Haus“, die zur gleichen Zeit die Stimmung in der Bevölkerung evaluierten, kamen zum Schluss, dass die massiven Reallohnverluste bei vielen die Furcht vor einem neuen „1918“ – oder auch Hoffnungen auf ein solches – hervorriefen. In diesem Kontext versprach Bundespräsident Walther Stampfli in seiner Neujahrsansprache 1944, dass man bis 1948 eine AHV einführen werde. Damit griff er einen zentralen Punkt der Landesstreikforderungen und Verfassungsauftrag von 1925 auf.
Deutungsstreit und Neuinterpretation im Kalten Krieg
Der 30. Jahrestag des Landesstreiks fiel also just mit der von 80% der Stimmenden gutgeheissenen Einführung der AHV zusammen. Während sich die bürgerliche Presse dezidiert dagegen verwahrte, irgendwelche Bezüge zwischen „1918“ und dem grossen sozialpolitischen Wurf von 1947/48 zu sehen, nahm in der Arbeiterbewegung eine andere Deutung Form an. Hier wurden nun zunehmend sozialpolitische Errungenschaften, die bereits im Forderungskatalog des Landesstreiks figuriert hatten, ursächlich auf diesen zurückgeführt – etwa mit Hinweis darauf, dass der Bundesrat selber in der Landesstreiksession von 1918 die Einführung der AHV „lebhaft befürwortet“ hatte und die 48-Stunden-Woche bereits kurz darauf Realität geworden war.
Mit der Integration der Arbeiterbewegung in den antikommunistischen Nachkriegskonsens und ab 1959 langfristig in die Regierung wurde das Umsturznarrativ an sich dysfunktional. Es verschwand aber keineswegs sofort. Während die Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift 1964 den Landesstreik als „eine Explosion infolge aufgestauten sozialen Druckes“ interpretierte, hatte Roger Masson, Ex-Chef des Nachrichtendienstes und ETH-Militärwissenschaftler, noch vier Jahre zuvor in der Revue Militaire Suisse die klassische Umsturzlegende repetiert – mitsamt ihren antisemitischen Zutaten. In Verteidigung des Umsturznarrativs trotz fehlender Quellengrundlage insistierte Edgar Bonjour 1965 in seiner Geschichte der schweizerischen Neutralität, das juristische Prinzip „quod non est in actis non est in mundo“ gelte für Historiker nicht.

Willi Gautschis Standardwerk von 1968 etablierte eine neue Sichtweise auf den Landesstreik; Quelle: Sozialarchiv
Quellenbasierte Forschung wies inzwischen aber in eine andere Richtung. Bereits 1955 hatte Willi Gautschi seine Dissertation zum Oltener Aktionskomitee vorgelegt. Um das 50jährige Jubiläum herum folgten dann verschiedene weitere Bücher, unter anderem eine Gesamtdarstellung von Gautschi, die bis heute als Standardwerk gilt. Darin wies er die „Konspirations-These“ zurück und betonte stattdessen strukturelle Probleme der Schweizer Gesellschaft und Politik der „Belle Epoque“, insbesondere die mangelhafte Integration der Arbeiterbewegung, und deren Verschärfung infolge der sozioökonomischen Entwicklung ab 1914. Diese Sichtweise etablierte sich in der Folge unter Historiker_innen unterschiedlicher politischer Couleur als Konsens und wurde durch mehrere Regionalstudien bestätigt. Bezeichnenderweise warf der nach der Öffnung russischer Archive in den 90er Jahren von Peter Collmer erbrachte Nachweis, dass sich auch dort keine Belege für eine organisatorische Zusammenarbeit von Streikführung und Sowjetmission finden, keine hohen Wellen mehr.
Das Zentenarium: Geschichtspolitik und Anschluss an die internationale Forschung
Im Vorfeld des Zentenariums ist das Interesse am Landesstreik neu erwacht. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund hat bereits für November 2017 eine Tagung organisiert. Im Sommer 2018 wird Olten Schauplatz eines Freilichttheaters und im November öffnet eine Ausstellung des Landesmuseums und des Sozialarchivs. Im Weiteren sind zwei Fernsehfilme, mehrere regionale Ausstellungen sowie eine Reihe von Publikationen in der Pipeline. Dieser Hype behagt nicht allen. So hat die Neue Zürcher Zeitung wiederholt vor einer geschichtspolitischen „Usurpation“ des „Erfolgsmodells Schweiz“ durch die Linke im Zuge des Zentenariums gewarnt und dabei schon mal präventiv den Vorwurf der „Geschichtsklitterung“ in den Raum gestellt. Historiographisch sekundiert wurde sie durch Rudolf Jaun und Tobias Straumann. Aufgrund einer recht limitierten Quellenbasis, unter sehr selektiver Berücksichtigung des Forschungsstands und nicht ohne faktische Irrtümer stellten sie den Landesstreik jüngst als simplen Showdown zwischen Armeeleitung und linken Arbeiterführern dar. Die Essenz des Fachartikels besteht in der vermeintlichen Widerlegung eines karikaturartig wiedergegebenen „Verelendungsnarrativs“, das angeblich die „post-68er“-Historiographie dominiert habe. Der Fokus der geschichtspolitischen Kontroversen um den Landesstreik hat sich in den letzten 99 Jahren also von dessen Charakter und dem Platz der Arbeiterbewegung in Staat und Gesellschaft zunehmend auf das Feld der (De-)Legitimation des Sozialstaates verschoben. Entsprechende Positionen für das Zentenarium sind bereits bezogen.
Die aktuelle Forschung – etwa ein laufendes SNF-Projekt an der Uni Bern – befasst sich dagegen mit anderen Aspekten, etwa der (auch mikrohistorischen) Einbettung des Landesstreiks in die allgemeine Protestwelle von 1917 bis 1919, der Bedeutung von Emotionen bei den Akteur_innen vor, während und nach dem November 1918, den Geschlechterrollen und ihren Durchbrechungen in dieser Krisenzeit oder der transnationalen Kontextualisierung des Ereignisses jenseits der alten Verschwörungstheorien als Teil einer „Global Revolution of Rising Expectations“ (Jörn Leonhard) ab 1917. Die Thematisierung solcher Gesichtspunkte, die den nationalhistorischen Röhrenblick aufbrechen und den Fokus auf bisher wenig beachtete Akteur_innen und Zusammenhänge richten, würde auch der Erinnerungskultur im Zeichen des Zentenariums gut tun. Nichtsdestotrotz: Vom kommenden Jubiläumsjahr sind nicht nur neue Einsichten in den Landesstreik zu erwarten. Mindestens ebenso so viel werden wir über die (erinnerungs-)politische Kultur der Gegenwart erfahren.