Die Weihnachtsgeschichte erzählt von einem Kind, das Maria nicht von ihrem Mann, sondern vom Heiligen Geist empfangen habe. Entsprechend gespannt war das Verhältnis des Christentums zur Fleischeslust. Das bürgerliche Zeitalter hingegen stellte den Sex ins Zentrum seiner Sorge und Aufmerksamkeit – und erfand die „Sexualität“. Diese Geschichte geht gegenwärtig vielleicht gerade zu Ende.

Einer der zentralen Mythen des Chris­ten­tums und damit auch der Weih­nachts­ge­schichte ist die Vorstel­lung, Marias habe das Christ­kind als Jung­frau zur Welt gebracht. Sie werde, verkün­dete ihr der Engel Gabriel, ein Kind gebären: Gottes Sohn. Maria wunderte sich zu Recht und fragte den Engel, wie das denn gehen solle, da sie „keinen Mann erkenne“, das heißt, mit ihrem Verlobten Josef noch keinen geschlecht­li­chen Umgang gehabt hatte. Der Engel erklärte, der Heilige Geist werde „über sie kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich über­schatten“. Sie werde also schwanger werden, „denn für Gott ist nichts unmög­lich“. Maria konnte sich nur fügen: „Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast.“ (Lukas 1, 26-38)

Keusch­heit

Auch wenn im alten Ägypten und in der hellenistisch-römischen Welt die Rede­weise vom „Jung­frau­en­ge­bo­renen“ für einen über­ra­genden Menschen von großer Bedeu­tung exis­tierte (was die bibli­sche Geschichte aus jener Zeit erklärt), entstand damit für das Chris­tentum ein Ideal, aber auch ein tiefes Paradox: Es wäre, sagten schon die Kirchen­väter des vierten Jahr­hun­derts, für einen wahren Chris­ten­men­schen das einzig Rich­tige, ganz ohne Flei­sches­lust leben zu können, ganz ohne die unum­gäng­liche „Befle­ckung“ im Geschlechtsakt, um in Rein­heit dem Herrn zu dienen. Daher erschien seit dem frühen Chris­tentum das Mönchstum mit dem aske­ti­schen Zwang zur Keusch­heit als der wahre Weg eines Chris­ten­men­schen, für Männer wie für Frauen. Das Problem an diesem Ideal und der Grund, warum ihm nicht unum­schränkt nach­ge­lebt werden konnte, war nicht nur, dass nicht jeder und jede sich als stark genug für diese Askese erwiesen, sondern natür­lich auch, dass es dem zentralen Gebot Gottes aus der Schöp­fungs­ge­schichte wider­sprach: „Vermehret Euch!“ Die Kirchen­väter hatten sich über dieses Problem sehr ernst­haft den Kopf zerbro­chen: Warum hat Gott – dem „nichts unmög­lich ist“ – eigent­lich die Frau geschaffen, wenn er doch neue Wesen auch auf andere Weise hätte entstehen lassen können? Warum braucht es Sex für die Repro­duk­tion – warum so viel Flei­sches­lust, so viel Befle­ckung, wo doch der Weg des Herrn der der Keusch­heit wäre…?

Man muss nun nicht behaupten, dass die Christen der nächsten andert­halb Tausend Jahre sich immer so nah wie nur möglich an das Ideal der Keusch­heit gehalten hätten, eher im Gegen­teil. Aber in Verbin­dung mit der Vorstel­lung der fleisch­li­chen Sünden, die schon bei unkeu­schen Gedanken beginnen, und dem ab etwa dem 12. Jahr­hun­dert durch­ge­setzten Zwang zur Beichte, das heißt des regel­mä­ßigen Geständ­nisses all dieser Sünden, entstand eine überaus starke, theo­lo­gisch begrün­dete und von der Kirche bezie­hungs­weise der Obrig­keit zuweilen mit Feuer und Schwert durch­ge­setzte Norm, die die Sexua­lität – es gab diesen Begriff und auch diese Vorstel­lung aller­dings noch nicht (siehe unten) – auf den Zeugungsakt in der Ehe beschränkte.

Stefan Lochner, Maria im Rosenhag, um 1450; Quelle: wikipedia.com

Zwar entsprach diese Norm natür­lich weder eins zu eins der gelebten Realität, noch verhin­derte sie, dass fromme Diener der Kirche bis hin zu den Päpsten selbst sich immer wieder die Dienste von Prosti­tu­ierten sicherten. Dennoch aber bestimmte das von Maria verkör­perte Ideal zumin­dest das Spre­chen und Denken in katho­li­schen Gegenden bis ins 18. Jahr­hun­dert grund­le­gend. Die Refor­ma­tion hatte zwar das Zölibat der Geist­li­chen abge­schafft, und einzelne Refor­ma­toren pflegten durchaus ein näheres Verhältnis zu den Sinnes­freuden. Aber der Sinn der Pries­terehe lag für Luther und Zwingli dennoch darin, dass die Geist­li­chen ihren Geschlechts­trieb in der Ehe mässigten, und gene­rell wurde auch im Protes­tan­tismus das Geschlechts­leben weit­ge­hend auf die eheliche Fort­pflan­zung beschränkt.

Der Geschlechts­trieb als „Natur­an­lage“

Kurzum, all die Chris­ten­men­schen, die nicht tatsäch­lich für ein Leben in Keusch­heit geboren waren, hatten selbst­ver­ständ­lich geschlecht­li­chen Verkehr – und sie hatten auch Lüste und Begierden, die sie in der Beichte oder im stummen Gebet zu bekennen und gege­be­nen­falls zu bereuen hatten. Aber wie gesagt, ein Mensch etwa des 15. oder des 16. Jahr­hun­derts „hatte“ trotz allem noch keine „Sexua­lität“, denn es gab das Konzept der „Sexua­lität“ als Sammel­be­griff für all die Lüste und Prak­tiken, für den Geschlechts­ver­kehr und die Empfängnis, für die persön­li­chen Neigungen und Obses­sionen, aber auch für die mora­li­schen Normen und staat­li­chen Regu­lie­rungen noch lange nicht. Die „Sexua­lität“ bildete sich erst ab dem 18. Jahr­hun­dert im Raum der bürger­li­chen Schichten in Europa langsam heraus – und sie erhielt ihren Namen sogar erst am Ende des 19. Jahr­hun­derts. Vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahr­hun­derts kann man beob­achten, wie der Sex – um nun diese etwas schnodd­rige Kurz­formel zu verwenden, die uns heute so geläufig ist – für bürger­liche Intel­lek­tu­elle und Schrift­steller, für Ärzte und Pädagogen zuneh­mend zu einem ganz und gar welt­li­chen Gegen­stand der Aufmerk­sam­keit und der Sorge wurde, um den jetzt, nach einer berühmten Formu­lie­rung von Michel Foucault, eine „diskur­sive Explo­sion“ zündete, ein schnell lauter und hekti­scher werdendes Spre­chen und Schreiben über den Sex.

Das begann zum einen damit, dass insbe­son­dere in Frank­reich in der zweiten Hälfte des 18. Jahr­hun­derts die schon ältere Tradi­tion der anti­kle­ri­kalen Porno­gra­phie zu einer popu­lären Welle von Schriften anwuchs, die die sexu­ellen Ausschwei­fungen deka­denter Adliger, geiler Mönche und verkom­mener Priester aufs Korn nahmen. Die bürger­liche Vorstel­lung von Geschlecht­lich­keit entstand, mit anderen Worten, einer­seits in diesem porno­gra­phi­schen Lachen – aber eben auch in der Kritik an den Ausschwei­fungen von Adel und Klerus. In den Jahren vor der Revo­lu­tion gerieten sogar der König selbst, der angeb­lich impo­tente Louis XVI., und seine Gattin Marie Antoi­nette, die als „öster­rei­chi­sche Hure“ beschimpft wurde, ins Visier dieser Kritik.

Zum andern aber begannen Ärzte und Pädagogen in der zweiten Hälfte des 18. Jahr­hun­derts den Geschlechts­trieb zuneh­mend als eine „Natur­an­lage“ zu bezeichnen, die man nicht verdrängen dürfe. Für die Aufklärer ging es zuerst darum, einen „sitt­li­chen“ Umgang mit dieser Natur­an­lage im selbst­ver­ständ­li­chen Rahmen der Ehe zu finden, was sie als eine Praxis der Selbst­be­herr­schung – die bürger­liche Tugend schlechthin – verstanden haben. Bis in die Mitte des 19. Jahr­hun­derts wurde aber immer deut­li­cher, dass die Medi­ziner und Hygie­niker den regel­mä­ßigen Geschlechts­ver­kehr in der Ehe als für beide Gatten aus gesund­heit­li­chen Gründen notwendig erachteten.

Auguste Debay: Hygiène et physio­logie du mariage, histoire natu­relle et médi­cale de l’homme et de la femme mariés dans ses plus curieux détails, Paris: Dentu 1880 (120. Aufl., 1. Aufl. 1848)

„Gesund­heit­lich“ bedeu­tete aller­dings nicht freudlos, wie die Texte in den Ratge­ber­bü­chern und -broschüren zuhanden des bürger­li­chen Lese­pu­bli­kums durch das ganze 19. Jahr­hun­dert hindurch deut­lich machten. In dem wohl am weitesten verbrei­teten Eherat­geber, Auguste Debay’s Hygiène et physio­logie du mariage von 1848 (mit unzäh­ligen Auflagen und Über­set­zungen bis ans Ende des Jahr­hun­derts) wurde zum Beispiel detail­liert und in offenen Worten geschil­dert, dass beim Geschlechts­ver­kehr auch die klito­rale Reizung der Frau notwendig für ihren Orgasmus sei. Zudem findet sich hier auch ein längeres Kapitel über die Flagel­la­tion – d.h. Ruten­hiebe „comme moyen aphro­di­siaque“, als Mittel zur Erre­gung der von langen Ehejahren ermü­deten bürger­li­chen Nerven, gefolgt von Hinweisen auf eroti­sie­rende Nahrungs­mittel wie Austern, Spargel, Cham­pa­gner und ähnliches…

Selbst­be­fle­ckung

Es gab für diese Ratge­ber­au­toren nur einen großen Horror, einen Abgrund der Schande: die „Selbst­be­fle­ckung“, das heißt die Onanie. Die Selbst­be­frie­di­gung gehörte natür­lich auch schon im christ­li­chen Zeit­alter in den Bereich der unkeu­schen Gedanken und Prak­tiken, doch sie war eine Sünde unter vielen anderen. Seit etwa den 1760er Jahren aber wurde die Onanie zu der großen Gefahr für den bürger­li­chen Sex, ja für Leben und Gesund­heit bürger­li­cher Männer überhaupt.

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Bildnis eines jungen Mannes, der durch Onanie an den Rand des Todes geführt wurde, in: Samuel Auguste A. D. Tissot: L’onanisme. Disser­ta­tion sur les mala­dies produites par la mastur­ba­tion, Ausgabe von 1856

Autoren wie der berühmte West­schweizer Arzt Samuel Auguste Tissot behaup­teten nun – mit Wirkungen bis weit ins 20. Jahr­hun­dert hinein –, dass die männ­liche Selbst­be­frie­di­gung nicht nur die Potenz zerstöre, sondern das Rücken­mark angreife, zu „Gehirn­krank­heiten“ wie Epilepsie oder Wahn­sinn führte, aber auch Lungen­schwind­sucht (Tuber­ku­lose), Haut­krank­heiten und vieles andere verur­sa­chen würde. Diese Angst basierte auf der schon alten und von den Physio­logen des 18. Jahr­hun­derts bestä­tigten Annahme eines direkten Zusam­men­hangs zwischen Gehirn und Samen­flüs­sig­keit (die bis hin zur Vorstel­lung ging, das Sperma bestünde über­haupt aus vielen kleinen Gehirnen).

Das klingt absurd, war aber zentral für die bürger­liche Vorstel­lung vom Sex. Man darf das nicht miss­ver­stehen und den Kampf gegen die Onanie etwa nur als „Kontrolle“, ja „Unter­drü­ckung der Sexua­lität“ deuten. Eher das Gegen­teil war der Fall. Denn in den Augen der Ärzte bedrohte die jugend­liche Onanie einer­seits die „Geschlechts­kraft“ und führte zu ihrer vorzei­tigen Erschöp­fung – wo doch das Ziel darin bestand, sich ihrer bis ins Alter hinein zu erfreuen, wie die Autoren nicht müde werden zu betonen. Andrer­seits aber bedrohte die Onanie gemäß diesen Autoren (übri­gens, fun fact, bis hin zu Sigmund Freud) das Gehirn und damit das Organ der männ­li­chen, bürger­li­chen Selbst­be­herr­schung und Selbst­kon­trolle. Dabei ging es, wie gesagt, zwar um die Idee von genuss­rei­chem Sex, aber auch noch um weit mehr. Denn seit dem Ende des 18. Jahr­hun­derts, etwa in Pierre Rous­sels Système physique et moral de la femme von 1775, wurde die Geschlech­ter­dif­fe­renz weniger im offen­sicht­li­chen, wenn auch nur ober­fläch­li­chen Unter­schied der Geschlechts­or­gane fest­ge­macht, sondern an der „tiefen“ Diffe­renz von Gehirn und Nerven: Demnach galt das Gehirn als das Organ, das beim Mann größer ausge­bildet und damit „stärker“ sei, um die Nerven und sich selbst zu kontrol­lieren, während die Frau ganz von den Sinnes­ein­drü­cken und Empfin­dungen beherrscht werde, die sie über ihre Nerven empfange, aber mit ihrem Gehirn nicht kontrol­lieren könne; denn ihr zentrales Organ sei nicht das Gehirn, sondern der Uterus.

Prosti­tu­tion

Kurzum, der bürger­liche Sex des 19. Jahr­hun­derts galt als gesund, ja notwendig für das Glück in der Ehe, solange er nicht zum „Exzess“ führte (wozu, natür­lich, auch der onanisme à deux zählte), sondern regel­mäßig und vom Mann kontrol­liert erfolgte. Doch das war nicht alles: die Ärzte, die den Sex als Natur­an­lage aner­kannten und die männ­liche Potenz ins Zentrum ihrer Sorge um den Sex stellten, vertraten auch durch­wegs die Ansicht, dass der männ­liche Geschlechts­trieb stärker sei als der weib­liche – und sie leiteten daraus die „physio­lo­gi­sche Notwen­dig­keit“ ab, dass der Mann seine den Rahmen einer sitt­lich geführten Ehe über­schrei­tenden Geschlechts­lust bei Prosti­tu­ierten befrie­digen solle.

Edouard Manet, Nana, 1877; Quelle: wikipedia.org

Der in der Mitte des 19. Jahr­hun­derts sehr berühmte Hygie­niker Alex­andre Parent-Duchâtelet – wir verdanken u.a. ihm die Einrich­tung der städ­ti­schen Kana­li­sa­tion – nannte deshalb Bordelle „égouts séminaux“, das heißt „sper­ma­ti­sche Kana­li­sa­ti­ons­an­lagen“, die zur buch­stäb­li­chen Abfüh­rung über­flie­ßender männ­li­cher Säfte dienten.

Damit schien der bürger­liche Sex soweit gere­gelt – und selbst noch für die ja immer auch als proble­ma­tisch empfun­dene Verlet­zung der Ehe durch die Prosti­tu­tion wussten die Hygie­niker Rat. Ange­sichts der Möglich­keit, dass der Mann seine Lust bevor­zugt bei Prosti­tu­ierten befrie­digen könne, empfahl der erwähnte Auguste Debay den Ehefrauen den bewussten, listigen Einsatz von Sex: „Geben Sie sich Mühe, sein Begehren zu befrie­digen, seien Sie schlau und simu­lieren sie den Orgasmus: dieser unschul­dige Betrug ist erlaubt, um den Mann an Sie zu binden.“

Sitt­lich­keit und Perversion

Seit dem letzten Drittel des 19. Jahr­hun­derts und bis um 1900 geriet diese ganz auf „Gesund­heit“ zentrierte Ordnung des Sex‘ nun aber zuneh­mend unter Druck. Zuerst atta­ckierte die soge­nannte „Sitt­lich­keits­be­we­gung“ die männlich-bürgerliche Doppel­moral, die von der Frau eheliche Treue forderte, dem Mann aber wie gesagt den Besuch des Bordells erlaubte. Zwei­tens tauchte immer drohender die Figur des „Perversen“ auf, dessen sexu­elle Abwei­chung sich nicht auf die Onanie beschränkte. Es waren zuerst die beiden Gerichts­me­di­ziner Ambrose Tardieu in Paris und Johann Ludwig Caspar in Berlin, die schon in den späten 1850er Jahren das gleich­ge­schlecht­liche Begehren von Männern als den wahren Abgrund, als das „namen­lose Verbre­chen“ und als „dunklen Trieb“ „entdeckt“ und beschrieben hatten. 1886 erhob der Grazer Psych­iater und Gerichts­me­di­ziner Richard von Krafft-Ebing diesen dann als „Inver­sion“, das heißt als „Verkeh­rung“ des natür­li­chen, nämlich hete­ro­se­xu­ellen Geschlechts­triebes zur Haupt­per­ver­sion (neben vielen anderen „Perver­sionen“ wie die Lüste von Schuh­fe­ti­schisten, „Statu­en­schän­dern“ oder Nekro­philen, die ihm aller­dings viel weniger Aufmerk­sam­keit wert waren).

Der bürger­liche Sex war damit ganz offen­kundig „repres­siver“ geworden, d.h. stärker den Anfor­de­rungen einer auch wieder vermehrt christ­lich inter­pre­tierten Sitt­lich­keit unter­worfen – und zudem mit klaren Vorstel­lungen darüber ausge­rüstet, wer alles als „pervers“, ja „dege­ne­riert“ zu gelten habe. Es war diese Situa­tion, die Sigmund Freud dann als Ursache für die verbrei­teten Hyste­rien und Neurosen im Wiener Bürgertum sah. Und es war daher auch Freud, der nun erneut versuchte, alle christ­lich moti­vierten oder sonst wie mora­lisch begrün­deten „Vorur­teile“, wie er sagte, beiseite zu schieben. Mit der hier notwen­digen Verein­fa­chung (und in Abse­hung der gesamten Proble­matik der Eugenik, bei der der Sex mit der „Gesund­heit“ oder gar „Rein­heit“ des „Volks­kör­pers“ oder der „Rasse“verbunden wurde) kann man zwei­fellos sagen, dass das, was im 20. Jahr­hun­dert „Sexua­lität“ hieß, von Freud und seinen vielen Schü­le­rinnen und Schü­lern geprägt wurde. Für Freud gab es keine „Natür­lich­keit“ des hete­ro­se­xu­ellen Begeh­rens mehr, wie es für das ganze 18. und 19. Jahr­hun­dert selbst­ver­ständ­liche Geschäfts­grund­lage war, sondern nur die Ursprüng­lich­keit der „bise­xu­ellen Anlage“ sowie die Annahme, dass die mensch­li­chen Lüste in der frühen Kind­heit „polymorph-pervers“ seien. Dazu gehörte aber auch die These des im Alter zuneh­mend illu­si­ons­losen und depri­mierten Freud, dass die „Zivi­li­sa­tion“ den harten Verzicht auf die Befrie­di­gung dieser viel­fäl­tigen Lüste fordere. Er nannte das „Subli­mie­rung“ – d.h. die notwen­dige Verschie­bung der realen sexu­ellen Trieb­be­frie­di­gung hin zur Befrie­di­gung, die man in der schöp­fe­ri­schen Arbeit gewinne. Dass man dabei aller­dings „glück­lich werde“, sei „im Plan der Schöp­fung nicht vorgesehen“.

Der doppelte Schatten Freuds

Sigmund Freud und der Bild­hauer Oscar Nemon, 1936; Quelle: welt.de

Man könnte die im Detail kompli­zierte Geschichte der Sexua­lität im 20. Jahr­hun­dert nach der Formel eines doppelten Schat­tens model­lieren, den Freud geworfen hatte. Einer­seits wehrten sich seine dissi­denten Schüler wie vor allem Wilhelm Reich gegen die Vorstel­lung einer notwen­digen „Subli­mie­rung“ und kämpften mit Wirkungen bis in die 1960er und 1970er Jahre, ja bis heute dafür, Sex als notwendig für die indi­vi­du­elle und gesell­schaft­liche „Befreiung“ zu begreifen. Die „Sexu­elle Revo­lu­tion“, eine Mischung von Kommer­zia­li­sie­rung und Poli­ti­sie­rung des Sex, hatte sich ihren Titel ohnehin von Wilhelm Reichs Buch Sexu­elle Revo­lu­tion (1936/1966) geborgt. Von Freud – und seinen Vorgän­gern, den Ärzten und Hygie­ni­kern des 19. Jahr­hun­derts – ging nicht nur die Vorstel­lung aus, dass der Sex unser „innerstes Geheimnis“ sei, unser „Wesen“, also das, was uns als Person ausmacht und unsere „Iden­tität“ bestimmt, sondern auch, mit und gegen Freud zugleich, die Vorstel­lung, dass uns der Sex „frei“ mache.

Zum anderen nun aber lässt sich auch seit, mit und gegen Freud eine Geschichte der Inklu­sion erzählen – das heißt eine Geschichte der Inklu­sion aller Abwei­chung, der Eineb­nung des Unter­schiedes zwischen dem soge­nannt Normalen und dem soge­nannt Perversen, eine Geschichte der Aner­ken­nung der Realität sexu­eller Diver­sität und damit eine Geschichte der Verviel­fäl­ti­gung sexu­eller Möglich­keiten und Iden­ti­täten bis heute.

Harry Styles; Quelle: girlfriend.com.au

Was sich dabei aller­dings wohl auflöst, ist die alte bürger­liche Idee von der Zentra­lität des hete­ro­se­xu­ellen Geschlechts­ver­kehrs als Grund­lage der gesell­schaft­li­chen Ordnung. Weder sind – Stich­wort gender flui­dity – die dafür erfor­der­li­chen geschlecht­li­chen Körper weiterhin in einer binären Logik so fraglos gegeben, wie das im bürger­li­chen Zeit­alter der Fall war (bzw. zu sein schien), noch ist, dank repro­duk­ti­ons­me­di­zi­ni­scher Technik, für die Empfängnis noch zwin­gend „Befle­ckung“ nötig (und auch nicht zwin­gend ein hete­ro­se­xu­elles Eltern­paar). Körper suchen zwar weiterhin viel­fäl­tigste Berüh­rungen und Kontakte, aber diese folgen, ganz offenbar, immer weniger den ‚klas­si­schen‘ sexu­ellen Skripten. Zudem steht für die vielen mögli­chen Lüste heute ein gigan­ti­scher indus­tri­eller Apparat zur Verfü­gung, der deren Befrie­di­gung im virtu­ellen Raum des Cyber­space mit nur ein wenig Selbst­be­fle­ckung aufwandslos erledigt.

Mit anderen Worten: Die Empfängnis, die Körper, die Lüste und die „Iden­ti­täten“ treten gegen­wärtig wieder, wie in vormo­dernen Zeiten, weit ausein­ander. Man kann sich daher zu fragen beginnen, ob dafür der einheit­liche Signi­fi­kant „Sexua­lität“ noch ange­messen ist. Das kann man heute zwar kaum schon entscheiden. Doch falls die Entwick­lung zu diesem Punkt führt, hätte die Herr­schaft der „Sexua­lität“, über den Daumen gepeilt, bloß etwa 250 Jahre gedauert. An ihrem Ende wird man sich viel­leicht auch gerne wieder die schöne alte Geschichte vom Kind erzählen, das ganz ohne Sex das Licht der Welt erblickte.