Alle 28 Stunden stirbt in den USA ein Afroamerikaner durch die Polizei oder private Sicherheitsdienste. Wer die Missachtung schwarzen Lebens in Amerikas Gegenwart verstehen will, muss in die Geschichte schauen. Die Wucht der Bilder dieser Gewalt hilft, sie zu kritisieren.

  • Jürgen Martschukat

    Jürgen Martschukat ist Professor für nordamerikanische Geschichte an der Universität Erfurt. Er arbeitet vor allem über die Geschichte von Körpern, Gewalt, Geschlecht und Rassismus.

Am 20. Oktober 2014 um 21:53 Uhr geht bei der Polizei Chicagos ein Notruf ein: Ein junger Mann, African-American, laufe mit einem offenen Messer mit etwa acht Zenti­meter Klinge auf der South Pulaski Rd. an der Ecke zur 41. Strasse herum. Die South Pulaski liegt im Südosten der Stadt in einer eher trau­rigen Gegend, wie auf google street­view zu sehen ist. Gesäumt von kleinen, ärmli­chen Einkaufsmalls führt sie zum Highway I 55, links ein Burger King, rechts ein Dunkin Donuts – das Übliche.

Filmstill aus Polizeikamera, Chicago, 20. Oktober 2014; Quelle: Chicago Police Department

Film­still aus Poli­zei­ka­mera, Chicago, 20. Oktober 2014; Quelle: Chicago Police Department

Weniger als fünf Minuten benö­tigt die Polizei, um zu dem Ort des Gesche­hens zu gelangen; dorthin, wo Officer Jason van Dyke den jungen Mann namens Laquan McDo­nald nieder­schiessen wird – 30 Sekunden, nachdem van Dyke selbst dort ange­kommen ist, sechs Sekunden nachdem er aus dem Wagen gestiegen ist, mit 16 Schuss, bis das Magazin seiner Waffe leer ist.

Wie ist solche Gewalt gegen African-Americans möglich? Sie gründet in einer Nicht­an­er­ken­nung schwarzen Lebens in den USA, die nur histo­risch zu verstehen ist. Sichtbar gemacht wurde diese fort­wäh­rende Miss­ach­tung schwarzen Lebens nicht zuletzt durch Bilder der Gewalt. Wie im Fall McDo­nald eröff­neten sie immer wieder die Möglich­keit, die herr­schenden Macht- und Gewalt­ver­hält­nisse zu kriti­sieren und zu verändern.

Eine Geschichte der Gewalt gegen schwarze Körper

Der afro­ame­ri­ka­ni­sche Intel­lek­tu­elle Ta-Nehisi Coates ist einer der derzeit prägnan­testen Analy­tiker, die die Gewalt gegen schwarze Körper und die Miss­ach­tung schwarzen Lebens in den USA anklagen. Dabei geht Coates in Between the World and Me (2015) von seinen eigenen Lebens­er­fah­rungen aus, die durch und durch von der Ausein­an­der­set­zung mit Gewalt geprägt gewesen seien. Im weissen, aber häufig auch im schwarzen Blick selbst, setze sich die afro­ame­ri­ka­ni­sche Geschichte aus Tausenden von Geschichten der Skla­verei, Segre­ga­tion und Verar­mung zusammen. Histo­risch könne der schwarze Körper so keine Aner­ken­nung als Subjekt erfahren, und dadurch werde ihm die Aner­ken­nung des Mensch- und Bürger­seins verwei­gert: „Being black was just someone’s name for being at the bottom, a human turned to object, object turned to pariah.“ Weiss zu sein, bedeute hingegen, Mensch zu sein. Entspre­chend liesse sich mit dem Psych­iater und Kolo­nia­lis­mus­kri­tiker Frantz Fanon auch formu­lieren: Die Haut­farbe – die Idee der Rasse – macht manche Menschen nach wie vor zu den Verdammten dieser Erde (1961). Es verwun­dert kaum, dass das Fanon­sche Denkens sowie post­ko­lo­niale Theo­rie­bil­dung, die um die Aner­ken­nung des Mensch-Seins und die Möglich­keits­be­din­gungen der Gewalt kreisen, in den jüngsten Debatten um Gewalt gegen African-Americans wieder Konjunktur haben.

Für Coates bildet die Geschichte die Folie, vor der die Gewalt und die Miss­ach­tung schwarzen Lebens in der Gegen­wart erst lesbar werden. So werden die ameri­ka­ni­sche Unab­hän­gig­keits­er­klä­rung und Verfas­sung zwar gern unein­ge­schränkt als Errun­gen­schaften gepriesen, die seit 1776 verspro­chen haben, alle Menschen vor Willkür und Gewalt zu schützen. Zugleich aber ist für schwarze Menschen die Nicht­an­er­ken­nung ihres Mensch­seins gera­dezu syste­misch in der US-Geschichte veran­kert, wie auch Charles W. Mills in The Racial Contract (1997) eindrück­lich zeigt. Sie ist die ameri­ka­ni­sche Version der „Entmensch­li­chung des Kolo­ni­sierten,“ von der Fanon spricht.

Schild aus dem Süden der USA, o.J.; Quelle: sweetauburn.us

Schild aus dem Süden der USA, o.J.; Quelle: sweetauburn.us

Bei dieser Entmensch­li­chung sind der Staat, das Recht und seine Insti­tu­tionen oft Komplizen gewesen, wie Colin Dayan in ihrem poin­tierten Buch über The Story of Cruel and Unusual (2007) argu­men­tiert. Denken wir nur an die Slave Codes vom 17. bis zum 19. Jahr­hun­dert, also die ganz eigenen Gesetze zur Regu­lie­rung der Skla­verei und zur Beherr­schung schwarzer Menschen; denken wir an die so genannten Jim Crow-Gesetze, welche die Segre­ga­tion – die ameri­ka­ni­sche Version der Apart­heid – zwischen den 1890er und 1960er Jahren zu geltendem Recht gemacht haben; denken wir an Tausende Lynch­morde an schwarzen Menschen, bei denen weisse Amts­träger den Mob oft anführten; denken wir an den Gefäng­nis­staat, den Michelle Alex­ander so tref­fend als The New Jim Crow (2010) bezeichnet und der seit den 1970er Jahren die afro­ame­ri­ka­ni­sche Commu­nity zerfrisst – und dies trotz oder viel­leicht gerade wegen der Erfolge der Bürger­rechts­be­we­gung in den Jahr­zehnten zuvor.

Kein Zweifel: Es gibt heute eine grös­sere schwarze Mittel­klasse, schwarze Profes­so­rinnen und Poli­tiker, ja, in den letzten acht Jahren hat sogar eine schwarze Familie im Weissen Haus gelebt. Zugleich aber ist Schwarz­sein so eng wie eh und je an Armut, Gewalt­er­fah­rung und Nicht-Anerkennung gekop­pelt, und Armuts­struk­turen sind in der neoli­be­ralen Markt­ge­sell­schaft viel­leicht sogar wirk­mäch­tiger denn je zuvor. Nach wie vor exis­tiert in den USA das, was Fanon als Kern kolo­nialer Gesell­schaften beschreibt, nämlich eine „in Abteile getrennte Welt“. Viel­leicht sind deren Grenzen in den letzten Jahren gerade deshalb mit solcher Gewalt forciert und immer wieder aufs Neue harsch gezogen worden, weil sie eben an anderer Stelle brüchiger geworden sind. Wir kennen das aus der Geschichte der USA: Nach der Eman­zi­pa­tion der Skla­vinnen und Sklaven, nach der Recon­s­truc­tion, zur Zeit des Civil Rights Move­ment und nun auch während der Präsi­dent­schaft Obamas – immer nahm auch die rassis­ti­sche Gewalt zu.

16 shots. Die Rolle der Polizei

Die segre­gierten Welten kommen im Alltag frei­lich andau­ernd mitein­ander in Berüh­rung, und dies auch und vor allem durch die Polizei. Spätes­tens nachdem im August 2014 der weisse Poli­zist Darren Wilson den schwarzen Jugend­li­chen Michael Brown in Ferguson erschossen hatte, war auch dies­seits des Atlan­tiks bekannt, dass die Poli­zei­kräfte in den USA in aller Regel weiss domi­niert sind und dass sie vor allem in schwarzen Vier­teln oft wie eine Besat­zungs­macht auftreten. Die Polizei sei die „Avant-Garde of White Supre­macy“, schreiben Steve Martinot und Jared Sexton, und als solche habe sie sich schon das ganze 20. Jahr­hun­dert hindurch gebärdet.

Daran hat sich bis heute wenig geän­dert. Vor allem schwarze Männer sind in ihrem Alltag perma­nent auf der Flucht vor der Polizei, wie dies die Sozio­login Alice Goffman in ihrer ethno­gra­phi­schen Studie On the Run (2014) doku­men­tiert. Und die Polizei Chicagos hat einen beson­ders schlechten Ruf. Auch deshalb ist dort nun jedes Poli­zei­auto mit einer Dashcam ausge­stattet, die eigent­lich auch funk­tio­nieren muss. Trotzdem: Von den acht Wagen, die an jenem Abend, als Laquan McDo­nald erschossen wurde, in die South Pulaski Rd. kamen, hatten am Ende drei gar keine Video­auf­zeich­nungen, und das Bild­ma­te­rial der anderen Wagen versuchten Polizei und Politik unter Verschluss zu halten. Auch das Band einer Sicher­heits­ka­mera des Burger King wies erstaun­li­cher­weise eine Lücke von 86 Minuten auf.

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Also war man zunächst nur auf den offi­zi­ellen Poli­zei­be­richt ange­wiesen, wenn man genauer wissen wollte, wie Laquan McDo­nald gestorben ist. Schon der Aufkleber ganz oben auf der Berichts­mappe bringt die Einord­nung des Gesche­hens auf den Punkt und gibt die Rich­tung des Denkens vor. „Agg Asslt to PO, Knife“ und „Justi­fiable Homicide“ heisst es dort. Im Bericht sind drei Poli­zisten („Male/White/41-46-36 Years“) als „Victim“ geführt, Laquan McDo­nald („Male/Black/17 Years“) als „Offender“. „Irra­tional“, „armed with a knife“, „aggres­sive“ habe sich der junge Mann dem Poli­zisten van Dyke genä­hert, so dass dieser aus Angst um sein Leben schiessen musste. Mehr­fach habe van Dyke zuvor „drop the knife!“ gerufen, ohne dass McDo­nald reagiert habe. Wie oft kann man inner­halb von sechs Sekunden – vom Verlassen des Wagens bis zum ersten Schuss – eigent­lich „drop the knife!“ rufen? Selbst nieder­ge­schossen auf dem Boden liegend, habe McDo­nald nicht von seinem Messer lassen wollen, ist dort zu lesen.

Natür­lich blieb van Dyke nach dem „Vorfall“ im Dienst. Bestehendes Video­ma­te­rial wurde zunächst beharr­lich unter Verschluss gehalten, und zwar mit der Begrün­dung, weitere mögliche Zeuginnen und Zeugen nicht beein­flussen zu wollen. Die Polizei und die Stadt Chicago versuchten zugleich, sich ausser­ge­richt­lich mit der Familie Laquan McDo­nalds zu einigen, was skep­tisch machen muss. Doch am 24. November 2015, über ein Jahr nach dem Geschehen, gelang es einer Gruppe von Akti­vis­tinnen, Jour­na­listen und Vertre­te­rinnen der Staats­an­walt­schaft Chicagos schliess­lich, die Frei­gabe des exis­tie­renden Video­ma­te­rials zu erwirken.

Das Video zeigt die scho­ckie­rende Exeku­tion eines jungen Mannes, der auch bei allem Verständnis für die Gefahren des Poli­zei­dienstes in den USA zu wenig gefähr­lich auftritt, um ihn nieder­zu­schiessen. Scho­ckie­rend ist auch, dass sich niemand für den von 16 Schüssen durch­siebten Menschen inter­es­siert; niemand kümmert sich; niemand über­prüft, ob er noch lebt; niemand versucht, das Leben zu retten, das dort zu Ende geht. Der getö­tete Körper auf der Strasse scheint viel­mehr wie ein Zeichen der Macht des Souve­räns, und die Bilder erin­nern deshalb an die Lynching-Fotografien. Erst gut eine halbe Stunde später, um 22:42 Uhr, wird McDo­nald im Mount Sinai Hospital für tot erklärt. Michael Browns Körper hat in Ferguson sogar mehrere Stunden auf der Strasse gelegen.

Autopsy-Grafik zum Tod von Laquan McDonald; Quelle: indybay.com

Autopsy-Grafik zum Tod von Laquan McDo­nald; Quelle: indybay.com

Die Grafik aus dem patho­lo­gi­schen Bericht über McDo­nald führt das Mass der Gewalt vor Augen, doch die 16 Schuss­wunden lassen sich nicht mehr auf einen Blick erfassen: „left scalp—neck—left chest—right chest—left elbow—right upper arm—left forearm—lateral right upper leg—left upper leg—left upper back—right upper arm—right arm—right forearm—right hand—lower back—right upper leg,“ liest sich ein dazu gehö­riger Text. Auch erfährt man von der Patho­login, dass der junge Mann „YOLO“ für „you only live once“ auf seinen Körper täto­wiert habe. Indeed.

Stra­te­gien gegen die Gewalt

Was der Gewalt entge­gen­setzen? Kann tatsäch­lich nur Gewalt die Gewalt über­winden, wie Frantz Fanon schrieb und wie wohl die Poli­zis­ten­mörder von Dallas und Phil­adel­phia meinten? Oder kann das Sicht­bar­ma­chen der Gewalt, wie es in Chicago durch die Frei­gabe des Videos erkämpft wurde, ein probates Mittel sein?

Die afro­ame­ri­ka­ni­sche Jour­na­listin und Akti­vistin April Reign bestreitet dies. Sie betont im Gegen­teil, das zig-fache Ankli­cken, Verlinken, Ver-„hashtaggen“ und „Sharen“ solcher Tötungs­vi­deos wie dem von Laquan McDo­nald führe nur zu einer erneuten Unter­wer­fung der Getö­teten in Endlos­schleife und damit zu einer Verfes­ti­gung bestehender Macht­ver­hält­nisse. Einer­seits ist dies kaum zu bestreiten, ande­rer­seits aber ist es der Film, der die Tötung Laquan McDo­nalds sichtbar macht und Zeugen­schaft ermög­licht. In jüngster Zeit sind es immer wieder solche Filme von Handy­ka­meras, Sicher­heits­ka­meras oder eben Dash­cams gewesen, die andere Perspek­tiven auf die Gescheh­nisse eröffnen und einer anderen Sicht der Dinge Raum geben. Der Film zeigt keinen aggres­siven Laquan McDo­nald, der einen Poli­zisten atta­ckiert. Deshalb wollten Polizei und Politik Chicagos den Film unter Verschluss halten, und deshalb ist es der Film, der die Proteste gegen die Instanzen von Cook County befeuert und den Prozess gegen Officer van Dyke ins Rollen gebracht hat. Letz­teres kommt in Chicago übri­gens fast nie vor, obschon die Polizei dort für ihre noto­ri­sche Bruta­lität berüch­tigt ist. Alle 28 Stunden stirbt in den USA ein Afro­ame­ri­kaner durch die Hände von Polizei oder Sicher­heits­diensten – doch es ist dieser bestimmte Fall, von dem wir wissen.

Kein Zweifel: Bilder können Macht­ver­hält­nisse stabi­li­sieren. Sie können Macht­ver­hält­nisse aber auch unter­wan­dern und verschieben; sie können dazu beitragen, dass Menschen für die Gewalt, die sie ausüben, verant­wort­lich gemacht werden. Es gibt in dieser Frage kein Entweder-oder, schwarz oder weiss, es ist viel­mehr ein Sowohl-als-auch: Bilder vermögen die Unter­wer­fung durch Gewalt zu repro­du­zieren, sie eröffnen aber auch Räume für Kritik. Dieses Sowohl-als-auch von Bildern hat sich in der Geschichte rassis­ti­scher Gewalt und des Kampfes gegen sie immer wieder gezeigt. So haben in der Mitte des 19. Jahr­hun­derts Bilder geschun­dener schwarzer Körper den Wider­stand gegen die Skla­verei gestärkt, zugleich aber auch einen gewalt­por­no­gra­fi­schen Voyeu­rismus genährt. Als ein halbes Jahr­hun­dert später Lynching­fo­to­gra­fien als Ansichts­karten verschickt und in weißen Dixie-Haushalten ausge­stellt wurden, haben sie Vorstel­lungen schwarzer Verwor­fen­heit und weisser mora­li­scher Über­le­gen­heit repro­du­ziert. Abge­druckt in der Zeit­schrift The Crisis der Bürger­rechts­or­ga­ni­sa­tion NAACP waren dieselben Bilder aber auch Zeichen weisser Barbarei und eines brutalen Gewaltrassismus.

Entschei­dend für die Frage, ob das Zeigen von Bildern ein Akt der Kritik sein kann, sind die Kontexte, in denen sie erscheinen, und die Deutungs­muster, die die Bilder über­haupt erst lesbar machen. Diese Deutungs­muster müssen das Mensch­sein der Gewalt­opfer unter­strei­chen; zugleich muss deut­lich werden, dass Gewalt in Wahr­neh­mungs­weisen, Lebens- und Macht­ver­hält­nissen gründet, die ein Effekt von Geschichte und damit verän­der­lich sind. Nicht zuletzt deshalb hat schon der Poli­tiker und Doyen der afro­ame­ri­ka­ni­schen Geschichts­schrei­bung W.E.B. DuBois in Black Recon­s­truc­tion in America (1935) uns Histo­ri­ke­rinnen und Histo­riker dazu aufge­for­dert, uns zu Wort zu melden.