Als das „Ende der Demokratie“ in den USA bezeichnete der Essayist Steve Almond das Impeachment-Verfahren (The Impeachment ‚Trial‘) kürzlich in der New York Times. Er meinte damit die problematische Verquickung von juristischem und politischem Vorgehen, die ein Impeachment-Verfahren in den USA gesetzlich vorsieht. Auch wenn – wie bei einem juristischen Verfahren – Fakten überprüft, Beweise gesammelt und Zeugen vernommen werden, steht am Ende kein juristisches Urteil über Schuld, sondern schlicht eine politische Entscheidung, für die es bekanntlich einer Zweidrittelmehrheit im Senat bedarf. Almond fragt danach, was diese politische Entscheidung künftig für das Amt bedeute: „Dieses Verhalten (von Trump) wird kein Machtmissbrauch mehr sein. Es wird zum Standardverfahren werden.“ Und er schlussfolgert: Das Verfahren „als ‚Prozess‘ zu bezeichnen, […] ist Desinformation. Dies ist schlicht und einfach ein Schauprozess, in dem das erklärte Ziel der Republikaner darin besteht, den Angeklagten zu entlasten.“
Kein Schauprozess
Es ist – auf den ersten Blick – kein Wunder, dass Almond das Verfahren einen ‚Schauprozess‘ (‚show trial‘) nennt: Die Entscheidung steht von vornherein fest, die Mehrheit der Republikaner wird allen Fakten zum Trotz gegen weitere Anhörungen und gegen die Amtsenthebung stimmen und damit die Parteiräson (bzw. die eigene Karriere) höher gewichten als die Wahrheit. Auch die Inszenierung während der Untersuchung kam auf beiden Seiten nicht zu kurz. Vor allem aber legten es die republikanischen Vertreter darauf an, dass gar nicht erst erfahren wird, was geschehen ist. Sie versuchten, um mit Hannah Arendt zu sprechen, Tatsachenwahrheiten in Meinungen zu verwandeln und dabei die Glaubwürdigkeit der Zeugen zu untergraben oder potentielle Zeugen gar nicht erst zuzulassen.

Quelle: ft.com
Dennoch handelt es sich nicht um einen Schauprozess, vielmehr handelt es sich überhaupt nicht um einen Gerichtsprozess, sondern um ein politisches Verfahren. Als solches wird es Konsequenzen haben, und zwar nicht nur für potentielle kommende Impeachments, für kommende Präsident*innen, sondern ebenso für die Frage, was die Eruierung von Fakten politisch künftig bedeutet. Dabei geht es nicht so sehr um die Einsicht, dass die (organisierte) Lüge zur Politik gehört, um noch einmal Hannah Arendt zu zitieren. Sie schrieb 1967 in ihrem Essay „Wahrheit und Politik“:
Niemand hat je bezweifelt, dass es um die Wahrheit in der Politik schlecht bestellt ist, niemand hat je die Wahrhaftigkeit zu den politischen Tugenden gerechnet. Lügen scheint zum Handwerk nicht nur des Demagogen, sondern auch des Politikers und sogar des Staatsmannes zu gehören.
Vielmehr geht es beim Impeachment-Verfahren darum, dass in der Politik nicht bloß gelogen wird, sondern dass das organisierte Lügen politisch für legitim erklärt wird – durch eine Mehrheitsentscheidung.
Das ist wohl auch der größte Unterschied zu Schauprozessen: In klassischen Schauprozessen, zum Beispiel denen unter Stalin, war alles darauf gerichtet, das Lügen zu verbergen, d.h. die Lüge als Wahrheit auszugeben und politische Entscheidungen eines autokratischen Regimes als juristische zu deklarieren, d.h. als Urteil „im Namen des Volkes“ zu inszenieren.
Moskauer Schauprozesse
Auch wenn der Vergleich hinkt, und er soll hinken, kann ein kurzer Blick auf die Praxis von Schauprozessen dennoch hilfreich sein zur Einordnung des Impeachment Trial: Als Schauprozesse werden Gerichtsprozesse bezeichnet, deren Ausgang a) im Vorhinein feststeht und b) deren Verfahren darauf gerichtet ist, Faktenwahrheiten nicht zu ergründen, sondern zu inszenieren. So war das insbesondere in jenen Schauprozessen, die als Stalinistische oder als Moskauer Schauprozesse in die Geschichte eingegangen sind. Damit sind vier Gerichtsverhandlungen zwischen 1936 bis 1938 gemeint, in denen hohe Funktionäre der Kommunistischen Partei der Sowjetunion wegen angeblicher konterrevolutionärer Aktivitäten bzw. wegen Hochverrats angeklagt und anschließend, im Anschluss an das gefällte Urteil, erschossen wurden.
Tatsächlich ging es in diesen Schauprozessen nicht darum, die Wahrheit über eine angebliche terroristische Verschwörung aufzudecken, sondern darum, mithilfe des Gerichtsprozesses diese Verschwörung zu konstruieren: Der Gerichtsprozess diente der Herstellung angeblicher Fakten, und er inszenierte die Vorführung von ‚Recht‘ genau in jenem Moment, als dieses vollends verletzt wurde. Schauprozesse sind, so betrachtet, immer Verfahren, in denen die Praxis der Verkehrung ins Gegenteil radikal vollzogen wird: Jemand wird angeklagt, geltendes Recht verletzt zu haben; de facto sind es aber die Anklage und der Gerichtsprozess selbst, die das Recht brechen.

Quelle: commondreams.org
Lässt man sich mit Blick auf das Impeachment Trial auf die Schauprozessmetapher ein, ergibt das nur aus der Perspektive der Republikaner Sinn: Es sind die Republikaner, die so tun, als handle es sich beim Impeachment Trial um einen Schauprozess, also um die Herstellung von Fakten durch die Anhörung. Auch dies ist eine konsequente Verkehrung ins Gegenteil, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen: Nicht Meinungen bzw. Erfindungen (Moskauer Schauprozesse) werden als Fakten dargestellt, sondern Fakten konsequent als Meinungen interpretiert (das ist die Strategie der Verteidiger von Trump beim Impeachment Trial).
Wort und Tat
Die Moskauer Schauprozesse in den 1930er Jahren haben das Verhältnis von Fakten, Wahrheit, Lüge und Meinung in der Sowjetunion grundlegend verschoben. Noch heute werden diese Verschiebungen juristisch und politisch reaktiviert. Es ist zu befürchten, dass dies auch durch das Impeachment Trial passiert, wie Almond eingangs einwarf.
Der von Stalin eingesetzte Staatsanwalt Andrej Vyšinskij hatte zur Durchführung der Schauprozesse die Prozessordnung angepasst. Er behauptete zwar, das Gericht sei beauftragt, die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden; in Wirklichkeit schuf er durch die Prozessordnung die Möglichkeit, Angeklagte ohne Indizien, also ohne Faktenwahrheiten zu überführen.
Vyšinskij begründete diese Verschiebung unglaublich raffiniert: Da man es mit konspirativen Verbrechen zu tun habe, ergebe es keinen Sinn, nach Indizien zu suchen. Er lastete also den Angeklagten zusätzlich an, dass man sie nicht überführen könne, weil sie von vornherein dafür gesorgt hätten, keine Indizien zu hinterlassen. Er schreibt: „Wie kann man unter diesen Verhältnissen die Frage der Beweise stellen?“
Weil es für die den Angeklagten angelasteten Verbrechen keine Indizien, keine Fakten gab, wurden – unter Folter erpresste – Geständnisse und Zeugenaussagen höher gewichtet als Fakten. Man könnte auch sagen, dass das Wort die Tat erst schuf und ersetzte. Denn dieses, das Wort (Geständnisse, Zeugenaussagen) – dafür hatte Vyšinskij gesorgt – sollte und musste nicht mehr interpretiert werden, es galt schlicht: Performativität ersetzte Hermeneutik.
Dies hatte nicht nur für die Rechtsprechung verheerende Folgen, sondern auch gesellschaftliche Konsequenzen: Die Abschaffung der Relevanz von Faktenwahrheit wurde durch die richtige politische Meinung, durch das Bekenntnis zur Partei, als Faktum ersetzt. Es ist diese Parteiräson, die auch in den USA den Glauben an demokratische Prozesse vollends erschüttert.
Mehrheitswahrheiten
Im Unterschied jedoch zur sowjetischen Parteidiktatur wenden die Republikaner den Slogan „Die Partei hat immer Recht“ in einer Demokratie an. Auch dies wird gesellschaftliche Folgen haben für die Frage nach dem Verhältnis von Faktenwahrheit und Meinung. Die Idee, dass es so etwas wie eine Wahrheit der Mehrheit gibt, wird scheinbar demokratisch legitimiert. Denn es ist nicht einfach nur eine Entscheidung über die eine oder die andere Verhandlungsposition oder politische Richtung, sondern über die Frage, ob Faktenwahrheiten politisch eine Rolle spielen. Das Groteske ist, dass die Republikaner nicht etwa die Gesetzgebung ändern mussten, im Gegenteil: Der Supreme Court hatte 1993 im Fall Nixon v. United States bestätigt, dass es sich um ein politisches Verfahren handle, in welchem die üblichen juristischen Regeln nicht gelten. Für eine Amtsenthebung muss keine Schuld im (straf-)rechtlichen Sinne nachgewiesen werden – und umgekehrt muss der Nachweis von Schuld keine Amtsenthebung nach sich ziehen. Das hat wiederum zur Konsequenz, dass die politische Mehrheit ein Impeachment Trial auch für eine Show-Anhörung nutzen könnte, weil sie die Mehrheit hat.
Nixon musste dennoch zurücktreten, weil es irgendwie noch einen Grundkonsens gab, was legitim ist und was nicht. Wenn diese Art von Grundkonsens wegfällt, kann das Impeachmentverfahren auch ein politischer ‚Schauprozess‘ werden.
Ignorieren von Fakten wird politisch legitimiert
Hannah Arendt hielt 1967 fest:
Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, dass es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt. Denn das Resultat ist keineswegs, dass die Lüge nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern dass der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird.
Dieses Verlieren der Orientierung, das Stiften von Chaos ist zwar das derzeit beliebteste Verfahren der Desinformation, aber beim Impeachment Trial sind wir bereits einen Schritt weiter: Die Orientierung ist völlig klar, es wurde hinreichend ermittelt, was passiert ist – aber das politische System ist offenbar ohne weiteres in der Lage, diese Fakten politisch zu ignorieren. Fakten müssen weder konstruiert noch verborgen werden, sie dürfen ignoriert werden. Damit (v)erklärt die politische Entscheidung die juristische Vorbereitung retroaktiv zu einer bloßen Show. Sie benutzt das Juridische nicht nur als Lüge wie bei den Schauprozessen, sondern sie führt dessen Irrelevanz vor.

Quelle: indybay.org
Das ist nicht nur schwer zu ertragen, man muss sich auch fragen, ob die politischen und juristischen Entscheidungsträger in den USA zu wenig Phantasie hatten, sich einen Trump und seine Mitspieler vorzustellen, die alle potentiellen Schlupflöcher des demokratischen Systems zur Entdemokratisierung nutzen. Es wäre besser, wenn man sich in der Zukunft nur noch an Trump als an denjenigen erinnert, dessen Lügen dazu führten, dass Demokratien ihr Funktionieren überprüft und ihre Schlupflöcher gekittet haben, weil sie sich darüber klar geworden sind, dass das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit nicht durch das Prinzip von Mehrheitsentscheidungen ausgehebelt werden darf.